Urteil des BFH vom 06.05.2014

Tatsächlicher Zugang eines zuzustellenden Dokuments bei Verstoß gegen zwingende Zustellungsvorschriften - Begriff der "Entscheidung" i.S. von § 11 Abs. 3 FGO umfasst auch Beschlüsse

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 6.5.2014, GrS 2/13
Tatsächlicher Zugang eines zuzustellenden Dokuments bei Verstoß gegen zwingende
Zustellungsvorschriften - Begriff der "Entscheidung" i.S. von § 11 Abs. 3 FGO umfasst auch
Beschlüsse
Leitsätze
Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende
Zustellungsvorschriften, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des
zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, ist das zuzustellende
Dokument i.S. des § 189 ZPO in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen, in dem er
das Schriftstück in die Hand bekommt.
Tatbestand
1 A. I. Vorgelegte Rechtsfrage
2 Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat durch Beschluss vom 7. Februar 2013
VIII R 2/09 (BFHE 241, 107, BStBl II 2013, 823) dem Großen Senat des BFH folgende
Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
3 Ist im Fall einer zulässigen Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten, die gegen
zwingende Zustellungsvorschriften verstößt, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 der
Zivilprozessordnung (ZPO) auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum
der Zustellung nicht vermerkt hat, das zuzustellende Schriftstück i.S. von § 189 ZPO bereits
in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich zugegangen und gilt deshalb als zugestellt, in
dem nach dem gewöhnlichen Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus
dem Briefkasten und der Kenntnisnahme gerechnet werden kann, auch wenn der Empfänger
das Schriftstück erst später in die Hand bekommt?
4 II. Sachverhalt
5 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erließ unter dem 22. August
2005 gegenüber den zusammenveranlagten Klägern und Revisionsklägern (Kläger) einen
geänderten Einkommensteuerbescheid 2002.
6 Nach erfolglosem Einspruch wies das Finanzgericht (FG) die Klage mit aufgrund mündlicher
Verhandlung verkündetem Urteil vom 16. Dezember 2008 10 K 4614/05 (Entscheidungen
der Finanzgerichte 2009, 554) ab und ließ die Revision zu. Die für die Kläger bestimmte
Ausfertigung des Urteils wurde den damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger, drei in
einer Sozietät zusammengeschlossenen Rechtsanwälten, im Wege eines
Zustellungsauftrags durch die Deutsche Post AG zugestellt. In der vom Zusteller
unterzeichneten Zustellungsurkunde wird angegeben, dass der Umschlag nach dem
vergeblichen Versuch der Übergabe in einen zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten
oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt wurde. Als Tag der Zustellung wurde der
24. Dezember 2008 (Mittwoch) ohne Angabe einer Uhrzeit in die Zustellungsurkunde
eingetragen.
7 Die Revisionsschrift der Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 26. Januar 2009 ging am
Dienstag, den 27. Januar 2009, beim BFH ein. Nach einem telefonischen Hinweis der
Geschäftsstelle des zuständigen VIII. Senats, dass die Frist zur Einlegung der Revision
bereits am 26. Januar 2009 abgelaufen sei, widersprachen die Prozessbevollmächtigten
dem mit Schriftsatz vom 28. Januar 2009 und stellten zugleich (hilfsweise) namens der
Kläger einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der
Revisionsfrist.
8 Die Kläger tragen vor, das Urteil sei ihren Prozessbevollmächtigen erst am 29. Dezember
2008 (Montag) zugegangen. Die Kanzlei sei vom 24. bis 28. Dezember 2008 nicht geöffnet
gewesen. Die für die Leerung des Briefkastens sowie die Öffnung und Verteilung der
Eingangspost zuständige Rechtsanwaltsfachangestellte B habe die Sendung am
29. Dezember 2008 im Kanzleibriefkasten vorgefunden. Dem bearbeitenden Rechtsanwalt
habe B auf sofortige Nachfrage gesagt, der Brief sei am 29. Dezember 2008 eingegangen.
Auf dem Briefumschlag fehle die Angabe des Tags der Zustellung. Für den Beginn der
Revisionsfrist komme es auf den Tag an, an dem der Prozessbevollmächtigte das
zuzustellende Urteil in die Hand bekommen habe, also den 29. Dezember 2008. Danach sei
die Revision rechtzeitig eingelegt worden. Hilfsweise sei Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu gewähren; ein möglicher Fehler von B könne den Klägern nicht zugerechnet
werden.
9 Zur Glaubhaftmachung ihres Vortrags haben die Kläger einen Briefumschlag für eine
förmliche Zustellung mit einem Absenderstempel des FG übersandt und beziehen sich im
Übrigen auf Versicherungen an Eides statt ihres bearbeitenden Prozessbevollmächtigten
und B. Der Briefumschlag enthält im Feld "zugestellt am" keine Eintragung. Handschriftlich
ist auf dem Umschlag vermerkt: "Eingang am Montag 29.12.08 laut Frau B ... und Frau T ...".
10 Der vorlegende Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Briefzustellers als
Zeugen über die Frage, zu welcher Tageszeit das Urteil des FG (am 24. Dezember 2008) in
den Briefkasten der Prozessbevollmächtigten der Kläger eingeworfen worden ist.
11 III. Vorlagebeschluss des VIII. Senats
12 1. Die Vorlagefrage ist nach Auffassung des VIII. Senats zu bejahen. Das Dokument sei dem
Empfänger i.S. des § 189 ZPO (hier i.V.m. § 53 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--)
bereits in dem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen, in dem nach dem gewöhnlichen
Geschehensablauf mit einer Entnahme des Schriftstücks aus dem Briefkasten und der
Kenntnisnahme gerechnet werden könne.
13 Für den Begriff des Zugangs i.S. des § 189 ZPO sei auf den allgemeinen Zugangsbegriff in
§ 130 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zurückzugreifen. Da § 189 ZPO
für unterschiedliche Fallgruppen fehlerhafter und deswegen unwirksamer Zustellungen
Heilungsmöglichkeiten anbieten solle, sei die Vorschrift fallgruppenbezogen auszulegen,
nämlich zumindest einerseits für die Fälle, in denen sich die formgerechte Zustellung nicht
nachweisen lasse, sowie andererseits für die Fälle, in denen das Dokument unter Verletzung
zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen sei. Der Zustellungsfiktion könne nur der
Regelungswille entnommen werden sicherzustellen, dass dem Adressaten das Schriftstück
ungeachtet etwaiger Zustellungsmängel auch tatsächlich --in der vom Zustellenden in den
Verkehr gegebenen verkörperten Form-- zugänglich gemacht worden sei. Die Adressaten
fehlerhaft zugestellter Schriftstücke dürften nicht schlechter gestellt werden als die
Adressaten ordnungsgemäß zugestellter Dokumente. Sie darüber hinaus gegenüber
Adressaten verfahrensfehlerfreier Ersatzzustellungen besser zu stellen, sei nicht
Regelungszweck des § 189 ZPO.
14 Unter den Umständen des Streitfalls seien die objektiv-rechtlichen Zwecke der
Zustellungsvorschriften höher als der Schutz des Adressaten zu bewerten. Für die normative
Bestimmung des Heilungszeitpunkts spreche vor allem, dass nur sie dem objektiven
Zustellungszweck zum Durchbruch verhelfe, den Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall der
Heilung einer zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu können.
Der Zustellungsempfänger könne den durch das Fehlen des Datumsvermerks
hervorgerufenen Zweifel über das Datum der Zustellung durch einen Anruf bei Gericht
beseitigen; dadurch seien seine Interessen ausreichend gewahrt.
15 2. Der VIII. Senat hält die vorgelegte Rechtsfrage für entscheidungserheblich.
16 Nach seiner Meinung hat die Einlegung der Sendung in den Briefkasten nicht zu einer nach
§ 180 Satz 2 ZPO wirksamen Ersatzzustellung geführt, weil das Datum der Zustellung nicht
auf dem Umschlag vermerkt und damit gegen die Formvorschrift des § 180 Satz 3 ZPO
verstoßen worden sei. Die Missachtung dieser Formvorschrift führe zur Unwirksamkeit der
Ersatzzustellung. Der Zustellungsmangel könne nur nach § 189 ZPO geheilt worden sein.
Danach gelte das Dokument in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es dem Empfänger
tatsächlich zugegangen sei.
17 Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei das zuzustellende FG-Urteil am Vormittag des
24. Dezember 2008 in den Briefkasten der Bevollmächtigten der Kläger eingeworfen
worden. Der Senat vertrete im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
(BGH) zu Zustellungen an auf einen Werktag fallenden Silvestertagen die Auffassung, dass
am 24. Dezember zumindest bis zum Mittag mit einer Kenntnisnahme von Geschäftspost
gerechnet werden könne.
18 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionseinlegungsfrist
sei nicht zu gewähren. Die Kläger hätten die Frist nicht ohne Verschulden versäumt, denn
sie müssten sich ein Verschulden ihres Bevollmächtigten zurechnen lassen. Im Fall von
Zustellungen von Amts wegen nach §§ 166 ff. ZPO müsse der Prozessbevollmächtigte die
Fristberechnung anhand des auf dem Zustellungskuvert angebrachten Zustellungsvermerks
des Postbediensteten selbst nachprüfen. Fehle der Datumsvermerk, so müsse sich der
Prozessbevollmächtigte auf andere Weise --z.B. durch Rückfrage beim FG-- über das
Zustellungsdatum erkundigen. Dies sei hier unterblieben.
19 3. Wegen der Begründung der Vorlage im Einzelnen wird auf den Vorlagebeschluss in
BFHE 241, 107, BStBl II 2013, 823 Bezug genommen.
20 IV. Rechtsgrund der Vorlage
21 Der VIII. Senat stützt die Vorlage sowohl auf § 11 Abs. 2 FGO als auch auf Abs. 4 der
Vorschrift.
22 Die Klärung der vorgelegten Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung. Wegen der
unterschiedlichen Auffassungen der mit der Rechtsfrage bisher befassten BFH-Senate I, II,
VI und VIII sowie den verschiedenen Ansichten in der Literatur sei eine Entscheidung durch
den Großen Senat erforderlich, um eine einheitliche Rechtsauslegung für die Zukunft zu
gewährleisten.
23 Mit seiner Auslegung des Merkmals "tatsächlich zugegangen" des § 189 ZPO weiche der
vorlegende Senat von dem Beschluss des VI. Senats vom 19. September 2007 VI B 151/06
(BFH/NV 2007, 2332) ab. Der VI. Senat habe mitgeteilt, er stimme einer Abweichung von
seiner Rechtsauffassung nicht zu.
Entscheidungsgründe
24 B. I. Zulässigkeit der Vorlage
25 Die Vorlage des VIII. Senats ist zulässig.
26 1. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt sich bereits aus § 11 Abs. 2 und 3 FGO. Der Große
Senat entscheidet nach § 11 Abs. 2 FGO, wenn ein Senat des BFH in einer Rechtsfrage von
der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will. Die
Auffassung des vorlegenden Senats weicht von derjenigen des VI. Senats des BFH in
BFH/NV 2007, 2332 ab. Dieser Beschluss kann Gegenstand einer Divergenz i.S. des § 11
Abs. 2 FGO sein.
27 Der von § 11 Abs. 3 FGO vorausgesetzte Begriff der "Entscheidung" umfasst grundsätzlich
auch Beschlüsse (BFH-Beschlüsse vom 28. November 1977 GrS 4/77, BFHE 124, 130,
BStBl II 1978, 229, unter C.I.1., und vom 10. März 1969 GrS 4/68, BFHE 95, 366, BStBl II
1969, 435, unter 1.). Eine Abweichung i.S. des § 11 Abs. 2 FGO setzt weiter voraus, dass mit
dem Beschluss das seinerzeitige Verfahren abgeschlossen und die nach Meinung des
anfragenden Senats nun abweichend zu beantwortende Rechtsfrage endgültig entschieden
wurde (vgl. Brandis in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 11 FGO
Rz 4; Müller-Horn in Beermann/Gosch, FGO § 11 Rz 8; Gräber/Ruban,
Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 Rz 11; Sunder-Plassmann in
Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 11 FGO Rz 29). Diese Voraussetzungen können
auch erfüllt sein, wenn mit dem Beschluss eine Nichtzulassungsbeschwerde
zurückgewiesen wird und die abschließende Entscheidung über die Rechtsfrage die
Entscheidung trägt.
28 Mit dem Beschluss in BFH/NV 2007, 2332 hat der VI. Senat eine
Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen, nachdem er sie zuvor als
zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt beurteilt hat. Die Entscheidung über die
Begründetheit der Nichtzulassungsbeschwerde setzt deren Zulässigkeit voraus und
beinhaltet deshalb eine abschließende Beantwortung der für die Wahrung der
Einlegungsfrist bedeutsamen Rechtsfragen. Der Beschluss des VI. Senats in BFH/NV 2007,
2332 ist danach eine Entscheidung, von der i.S. des § 11 Abs. 2 FGO in Bezug auf
Rechtsfragen abgewichen werden kann, die die Zulässigkeit der Beschwerde betreffen.
29 In Bezug auf eine solche Rechtsfrage, nämlich die Frage, wann ein Dokument i.S. des § 189
ZPO als bekanntgegeben gilt, weicht die Auffassung des vorlegenden Senats von dem
Beschluss des VI. Senats des BFH in BFH/NV 2007, 2332 ab.
30 Der VI. Senat hat auf Anfrage des vorlegenden Senats mit Beschluss vom 13. November
2012 VI ER-S 3/12 der Abweichung nicht zugestimmt.
31 2. Die Zulässigkeit der Vorlage ergibt sich darüber hinaus auch aus § 11 Abs. 4 FGO. Eine
Vorlage, die nach Durchführung des Anfrageverfahrens auf Divergenz gestützt wird, kann
zusätzlich auch auf den Anfragegrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützt werden.
32 Die vorgelegte Rechtsfrage war bereits Gegenstand von Entscheidungen mehrerer Senate
und kann in Entscheidungen jedes Senats entscheidungserheblich zu beantworten sein. Der
vorlegende Senat hat der Rechtsfrage deshalb zutreffend grundsätzliche Bedeutung
beigemessen.
33 II. Entscheidungserheblichkeit der Vorlage
34 Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die Entscheidung des VIII. Senats erheblich. Bei
Verneinung der Vorlagefrage entsprechend der Rechtsauffassung des VI. Senats wäre die
Revision der Kläger zulässig, denn der Zustellungsmangel wäre dann am 29. Dezember
2008 dadurch geheilt worden, dass der Bevollmächtigte der Kläger die Ausfertigung des FG-
Urteils "in den Händen hielt". Die Frist zur Einlegung der Revision wäre bei Eingang der
Revisionsschrift am 27. Januar 2009 noch nicht abgelaufen gewesen. Der vorlegende Senat
ginge dann ausweislich des Vorlagebeschlusses von der Zulässigkeit der Revision aus, so
dass die Revision nicht nach § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss zu verwerfen wäre. Es
müsste vielmehr durch Urteil über die Begründetheit der Revision entschieden werden.
35 III. Entscheidung des Großen Senats über die vorgelegte Rechtsfrage
36 1. Rechtsgrundlagen
37 Nach § 104 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ist ein aufgrund mündlicher Verhandlung
verkündetes Urteil den Beteiligten zuzustellen. Zugestellt wird von Amts wegen nach den
Vorschriften der Zivilprozessordnung (§ 53 Abs. 2 FGO).
38 Zustellung ist nach § 166 Abs. 1 ZPO die Bekanntgabe eines Dokuments an eine Person in
der von §§ 166 ff. ZPO bestimmten Form. Ein Zustellungsauftrag kann der Post erteilt
werden, indem dieser das zuzustellende Schriftstück in einem verschlossenen Umschlag
sowie ein vorbereitetes Formular einer Zustellungsurkunde übergeben wird (§ 176 Abs. 1
ZPO). Für die Ausführung der Zustellung gelten §§ 177 bis 181 ZPO (§ 176 Abs. 2 ZPO).
Das Schriftstück kann der Person, der zugestellt werden soll, an jedem Ort übergeben
werden, an dem sie angetroffen wird (§ 177 ZPO). Wird die Person, der zugestellt werden
soll, in ihrer Wohnung, in dem Geschäftsraum oder in einer Gemeinschaftseinrichtung, in der
sie wohnt, nicht angetroffen, und kann das Schriftstück auch nicht einer der in § 178 Abs. 1
Nr. 1 oder Nr. 2 ZPO genannten Personen übergeben werden, kann nach § 180 Satz 1 ZPO
das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten
oder in eine ähnliche Vorrichtung, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und
die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist, eingelegt
werden. Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt (§ 180 Satz 2 ZPO). Nach § 180
Satz 3 ZPO vermerkt der Zusteller auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das
Datum der Zustellung. Zum Nachweis der Zustellung ist eine Urkunde auf dem hierfür
vorgesehenen Formular anzufertigen (§ 182 Abs. 1 Satz 1 ZPO), die u.a. die Bemerkung
enthalten muss, dass der Tag der Zustellung auf dem Umschlag, der das zuzustellende
Schriftstück enthält, vermerkt ist (§ 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO).
39 Zustellungsmängel werden unter den Voraussetzungen des § 189 ZPO geheilt. Die
Vorschrift lautet:
40 "Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das
Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es in
dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem
Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist."
41 2. Rechtsentwicklung
42 Die Vorschriften über die Zustellung im Gerichtsverfahren sind durch das
Zustellungsreformgesetz (ZustRG) vom 25. Juni 2001 (BGBl I 2001, 1206) novelliert worden.
Die Neuregelungen sind am 1. Juli 2002 in Kraft getreten (Art. 4 ZustRG).
43 Bis zum Inkrafttreten des Zustellungsreformgesetzes hatte § 53 Abs. 2 FGO a.F. bestimmt,
dass Zustellungen von Amts wegen nach den Vorschriften des
Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vorzunehmen waren. Für Zustellungen durch die
Post verwies § 3 Abs. 3 VwZG auf §§ 180 bis 186 und 195 Abs. 2 ZPO damaliger Fassung
(ZPO a.F.). Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten war dort nicht
vorgesehen. Zur Heilung von Zustellungsmängeln bestimmte § 9 Abs. 1 VwZG für den Fall,
dass sich die formgerechte Zustellung des Schriftstücks nicht nachweisen ließ oder das
Schriftstück unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen war, dass
dieses als in dem Zeitpunkt zugestellt gelte, in dem der Empfangsberechtigte es
nachweislich erhalten habe. Dies galt nach § 9 Abs. 2 VwZG aber nicht, wenn mit der
Zustellung eine Rechtsmittelfrist begann. In ähnlicher Weise war auch für nach der
Zivilprozessordnung zu bewirkende Zustellungen eine Heilung nur möglich (§ 187 Satz 1
ZPO a.F.), soweit nicht durch die Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden
sollte (§ 187 Satz 2 ZPO a.F.).
44 Das Zustellungsreformgesetz verfolgte das Ziel, das Zustellungsrecht zu vereinfachen.
Insbesondere sollte "die kostenaufwendige und für den Zustellungsadressaten oftmals
umständliche beurkundete Zustellung durch Niederlegung soweit wie vertretbar vermieden"
werden (Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks 14/4554, 13). Dies sollte u.a. durch
Einführung der beurkundeten Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in den
Briefkasten sowie durch eine erweiterte Heilung von Zustellungsmängeln erreicht werden.
Zustellungszweck sei es, dem Adressaten angemessene Gelegenheit zur Kenntnisnahme
eines Schriftstücks zu verschaffen und den Zeitpunkt dieser Bekanntgabe zu dokumentieren.
Lasse sich die formgerechte Zustellung nicht nachweisen oder seien zwingende
Zustellungsvorschriften verletzt worden, gelte ein Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt,
in dem es der Adressat oder ein Empfangsberechtigter erhalten habe. Das Gericht prüfe in
diesen Fällen in freier Beweiswürdigung des Sachverhalts, ob der Zustellungszweck erreicht
und wann das geschehen sei. Das gelte auch dann, wenn die Zustellung eine Notfrist in
Gang setze (BTDrucks 14/4554, 14). In der Einzelbegründung zu der Neuregelung der
Heilung in § 189 ZPO heißt es (BTDrucks 14/4554, 24 f.):
45 "Nach dem Vorbild des § 9 Abs. 1 [VwZG] soll deshalb ein Schriftstück als zu dem Zeitpunkt
zugestellt gelten, in dem es der Zustellungsadressat oder ein Empfangsberechtigter
nachweislich erhalten hat. Unter diesen Voraussetzungen ist ein Zustellungsmangel auch
dann geheilt, wenn durch die Zustellung der Lauf einer Notfrist in Gang gesetzt werden soll.
Wenn eine fehlerhafte Zustellung mit dem Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs an den
Adressaten oder einen Empfangsberechtigten wirksam wird, muss das für jede Zustellung
gelten. Treten Fehler auf, so darf deren Beseitigung nicht zu Lasten einer Partei gehen,
wenn feststeht, dass das zuzustellende Schriftstück der Person tatsächlich zugegangen ist,
an die es gerichtet war oder dem Gesetz gemäß gerichtet werden konnte."
46 Die vorgeschlagenen neuen §§ 181 und 189 ZPO wurden im Verlauf des
Gesetzgebungsverfahrens zum Zustellungsreformgesetz nicht geändert und gingen deshalb
in der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Fassung in den Gesetzesbeschluss ein.
47 3. Rechtsprechung
48 a) Vor Ergehen des Vorlagebeschlusses war der BFH --soweit anhand der veröffentlichten
Entscheidungen ersichtlich-- in vier Fällen mit der Auslegung des § 189 ZPO befasst.
49 aa) Im Fall des Beschlusses vom 19. Januar 2005 II B 38/04 (BFH/NV 2005, 900) war ein
Urteil des FG durch Einlegen in den Briefkasten am 13. März 2004, einem Samstag,
zugestellt worden, ohne dass der Zusteller das Datum der Zustellung auf dem Briefumschlag
vermerkt hatte. Die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde war am 14. Mai 2004 beim
BFH eingegangen. Der BFH kam zu dem Ergebnis, dass die Frist von zwei Monaten gemäß
§ 116 Abs. 3 Satz 1 FGO noch nicht abgelaufen gewesen sei, und entschied, die
Beschwerdebegründung sei zwar rechtzeitig eingegangen, sie entspreche aber nicht den
Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO. Weil der Prozessbevollmächtigte
erklärt hatte, dass in seiner Kanzlei an Samstagen üblicherweise nicht gearbeitet werde, und
das Urteil in der Kanzlei mit dem Eingangsstempel vom 15. März 2004 (Montag) versehen
worden war, ging der II. Senat davon aus, dass das Urteil dem Prozessbevollmächtigten am
15. März 2004 tatsächlich zugegangen sei. Dieser Zeitpunkt --nicht der Zeitpunkt des
Einlegens in den Briefkasten der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers
(13. März 2004)-- sei für die Zustellung des FG-Urteils maßgebend (§ 189 ZPO).
50 bb) Dem zur Anrufung des Großen Senats wegen Divergenz führenden Beschluss des
VI. Senats in BFH/NV 2007, 2332 liegt die Auffassung zugrunde, für den Zeitpunkt des
tatsächlichen Zugangs i.S. des § 189 ZPO komme es darauf an, dass das zuzustellende
Schriftstück derart in die Hände des Zustellungsadressaten gelangt sei, dass dieser es
behalten und von seinem Inhalt Kenntnis nehmen könne. Im dortigen Fall war das
angefochtene FG-Urteil ausweislich der Zustellungsurkunde am 17. November 2006
(Freitag) durch Einlegen in den Briefkasten des Klägers zugestellt worden. Auf dem
Briefumschlag befand sich kein Vermerk über das Datum der Zustellung. Die Beschwerde
war am 21. Dezember 2006 eingelegt worden. Nach eigenen Angaben hatte der Kläger am
23. November 2006 Kenntnis von der Zustellung erhalten. Diesen Tag betrachtete der
VI. Senat als Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs i.S. des § 189 ZPO.
51 cc) Der IX. Senat hat mit Beschluss vom 9. März 2009 IX B 120/08 (BFH/NV 2009, 964) den
rechtzeitigen Eingang einer Nichtzulassungsbeschwerde unter Hinweis auf § 189 ZPO
bejaht. Von den näheren Umständen der Zustellung ist dem Beschluss nur zu entnehmen,
dass durch Einlegen in den Briefkasten zugestellt wurde, die Zustellungsurkunde aber in
Folge des Fehlens einer Unterschrift unvollständig war. Der IX. Senat führte aus, der
Zustellungsmangel führe nicht zur Unwirksamkeit der Zustellung, sondern das FG-Urteil
gelte nach § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der betreffenden Person
tatsächlich zugegangen sei. Das sei hier Montag, der 26. Mai 2008, gewesen. Aufgrund
welcher Umstände dieser Tag als Tag des Zugangs angesehen wurde, ist aus dem
Beschluss nicht ersichtlich.
52 dd) In seinem Urteil vom 21. September 2011 I R 50/10 (BFHE 235, 255, BStBl II 2012, 197)
hat der I. Senat der Revision gegen ein Urteil stattgegeben, das nach Angaben des FG am
29. Mai 2010 (Samstag) durch Einlegen in den Briefkasten des Prozessbevollmächtigten
zugestellt und gegen das Revision am 30. Juni 2010 eingelegt worden war. Auf dem
Umschlag fehlte der Vermerk über das Datum der Zustellung. Der I. Senat hielt die
Revisionsfrist nicht für versäumt, weil er den Angaben des Prozessbevollmächtigten folgend
davon ausging, diesem sei das Schriftstück mit Öffnen der Post am Montag, dem 31. Mai
2010, tatsächlich zugegangen. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des VI. Senats in
BFH/NV 2007, 2332 vertrat der I. Senat die Auffassung, der tatsächliche Zugang i.S. des
§ 189 ZPO setze voraus, dass das zuzustellende Schriftstück derart in die Hände des
Zustellungsadressaten gelangt sei, dass dieser es behalten und von seinem Inhalt Kenntnis
nehmen könne.
53 b) Im Übrigen war die Frage, zu welchem Zeitpunkt ein nach § 180 ZPO durch Einlegen in
den Briefkasten des Adressaten unter Verletzung von Formvorschriften zugestelltes
Dokument i.S. des § 189 ZPO dem Adressaten tatsächlich zugegangen ist, --soweit
ersichtlich-- nur in einem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-
Westfalen (Urteil vom 17. Januar 2013 L 9 AL 173/11, juris) von entscheidungserheblicher
Bedeutung. In diesem Urteil heißt es, eine Heilung gemäß § 189 ZPO setze die Feststellung
des Zeitpunktes voraus, in dem das Schriftstück (ggf. spätestens) in die Hände des
Adressaten gelangt sei. Das LSG bezog sich dabei auf einen Beschluss des BGH
(Beschluss vom 21. Dezember 1983 IVb ZB 29/82, Neue Juristische Wochenschrift --NJW--
1984, 926), der allerdings die Auslegung des § 187 ZPO a.F. betrifft.
54 4. Schrifttum
55 a) Im Schrifttum wird überwiegend in Anlehnung an die Formel des BGH-Beschlusses in
NJW 1984, 926 (ebenso BGH-Urteile vom 21. März 2001 VIII ZR 244/00, Höchstrichterliche
Finanzrechtsprechung --HFR-- 2001, 1200; vom 22. November 1988 VI ZR 226/87, NJW
1989, 1154) die Auffassung vertreten, es müsse eine zuverlässige Kenntnis von dem
zuzustellenden Schriftstück vermittelt werden, was im Allgemeinen dann geschehen sei,
wenn der Adressat der Zustellung trotz Verletzung der Zustellungsvorschriften das
zuzustellende Schriftstück "in die Hand bekommen" habe (MünchKommZPO/Häublein,
4. Aufl., § 189 Rz 8; Prütting/Gehrlein, ZPO, 5. Aufl., § 189 Rz 4; Stein/Jonas/Roth, ZPO,
23. Aufl., § 189 Rz 7; Hüßtege in Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 35. Aufl., § 189 Rz 8;
Wittschier in Musielak, ZPO, 11. Aufl., § 189 Rz 3; Zöller/ Stöber, ZPO, 30. Aufl., § 189 Rz 4;
ebenso zu § 8 VwZG: Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 8 VwZG Rz 1; Schwarz in HHSp, § 8
VwZG Rz 5).
56 Rohe (Wieczorek/Schütze/Rohe, 4. Aufl., § 189 ZPO Rz 26) weist darauf hin, dass § 189
ZPO gegenüber dem früheren § 187 ZPO a.F. präziser gefasst worden sei, indem der
"tatsächliche" Zugang beim Adressaten verlangt werde. Dies setze abweichend von den
Zugangsregeln des bürgerlichen Rechts die gegenständliche Übernahme des Schriftstücks
durch den Adressaten selbst voraus. Der bloße Eintritt in den Machtbereich genüge dagegen
nicht. Eine Heilung sei nur gerechtfertigt, wenn das Recht des Adressaten auf rechtliches
Gehör tatsächlich und nicht nur potenziell gewahrt werde.
57 Nach Zimmermann (ZPO, 8. Aufl., § 189 Rz 2) setzt der Zugang voraus, dass das
Schriftstück gegenständlich in die Hände des Adressaten gelangt ist. Das Datum des
Zugangs sei notfalls durch Beweisaufnahme zu ermitteln. In der Regel begnüge man sich mit
dem Datum, das der Empfänger einräume (Hinweis auf Zustellung gegen
Empfangsbekenntnis nach § 174 ZPO).
58 Brandis (in Tipke/Kruse, a.a.O., § 53 FGO Rz 31) vertritt die Auffassung, der tatsächliche,
nicht der vermutete Zugang heile den Zustellungsfehler. Die Frist beginne dann im Zeitpunkt
dieser "fiktiven Zustellung".
59 b) Der Vorlagebeschluss des VIII. Senats (BFHE 241, 107, BStBl II 2013, 823) ist im
Schrifttum teils zustimmend, teils ablehnend aufgenommen worden.
60 Steinhauff (juris PraxisReport Steuerrecht 45/2013 Anm. 6) hält die im Vorlagebeschluss
vertretene Auffassung für zutreffend. Wenn auf den Zeitpunkt abgestellt werde, in dem der
Empfänger das Schriftstück tatsächlich in die Hände genommen habe, sei ein
angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Zustellenden und des
Zustellungsempfängers nicht gewährleistet. Der Empfänger habe es in der Hand, den
Zeitpunkt der Heilung hinauszuzögern, weil nur er über diesen Auskunft erteilen könne. Dies
sei nicht damit zu vereinbaren, dass die Zustellungsvorschriften objektiv dazu dienten, den
Zeitpunkt für alle Beteiligten gleichermaßen rechtssicher zu bestimmen. Marfels
(Steuerberaterwoche 2013, 842) hält den Vorlagebeschluss ebenfalls für überzeugend
begründet.
61 Kritisch wird der Vorlagebeschluss von Carlé (Deutsche Steuer-Zeitung 2013, 652)
besprochen. Der Beschluss berücksichtige nicht, dass die Zugangsfiktion abweichend vom
sonstigen Abgabenrecht auf die tatsächliche Kenntnisnahme abstelle und nicht auf den dem
gewöhnlichen Gang der Dinge entsprechenden unterstellten Sachverhalt.
62 IV. Auffassung des Großen Senats
63 1. Als Vorfrage zur Vorlage hat der VIII. Senat § 180 Satz 3 ZPO, wonach vom Zusteller auf
dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung zu vermerken ist,
als eine der nach § 189 ZPO heilbaren zwingenden Zustellungsvorschriften beurteilt. An
diese Rechtsauffassung ist der Große Senat gebunden, er teilt sie auch (ebenso BFH-Urteil
in BFHE 235, 255, BStBl II 2012, 197, Rz 9, m.w.N.).
64 Die Entscheidung des Großen Senats betrifft allein die Frage, zu welchem Zeitpunkt das
Dokument als zugestellt gilt. Dass die Prozessbevollmächtigten der Kläger i.S. des § 189
ZPO Kenntnis von dem zuzustellenden Dokument durch Einlegen in den zu ihren
Büroräumen gehörenden Briefkasten erhalten haben, ist unstreitig.
65 2. Ein Dokument ist i.S. des § 189 ZPO in dem Zeitpunkt tatsächlich zugegangen, in dem der
Adressat das Dokument "in den Händen hält". Der Große Senat teilt nicht die Auffassung
des vorlegenden Senats, es sei auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem eine Willenserklärung
i.S. des § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB als zugegangen gilt.
66 a) Dem Wortlaut der Regelung lässt sich entnehmen, dass der Zugang alleine für die
Bestimmung des Zeitpunkts der Zustellung nicht ausreichen soll. Dass der Gesetzgeber das
Adjektiv "tatsächlich" verwendet hat, spricht dafür, dass eine qualifizierte Form des Zugangs
gemeint ist. Damit unterscheidet sich § 189 ZPO tatbestandlich von § 130 Abs. 1 Satz 1
BGB, denn dort wird lediglich der Zugang der Willenserklärung gefordert. Dies spricht
dagegen, die für den Zugang von Willenserklärungen geltenden Grundsätze bei der
Auslegung des § 189 ZPO zu übernehmen.
67 b) Betrachtet man die Entstehungsgeschichte des § 189 ZPO, muss der Begriff des
"tatsächlichen" Zugangs im Zusammenhang mit den anderen Regelungen zur Reform des
Zustellungsrechts im Zustellungsreformgesetz ausgelegt werden. § 189 ZPO unterscheidet
sich von der Vorgängerregelung in § 187 ZPO a.F. insbesondere dadurch, dass eine
Heilung auch dann möglich ist, wenn durch die Zustellung eine Notfrist in Gang gesetzt
werden soll. § 187 Satz 2 ZPO a.F. schloss eine Heilung in einem solchen Fall ausdrücklich
aus. Die Ausweitung der Heilung von Zustellungen nach der Zivilprozessordnung ist in
gleicher Weise auch für Zustellungen nach dem Verwaltungszustellungsgesetz geregelt
worden. Während § 9 Abs. 2 VwZG a.F. eine Heilung für den Fall ausschloss, dass mit der
Zustellung eine Klage-, Berufungs-, Revisions- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beginnt,
kann nach § 8 VwZG auch eine fristauslösende Zustellung geheilt werden.
68 Sowohl in § 189 ZPO als auch in § 8 VwZG ist abweichend von den Vorgängerregelungen
jetzt der Zeitpunkt entscheidend, in dem das Dokument dem Adressaten "tatsächlich
zugegangen" ist. Nach § 187 Satz 1 ZPO a.F. war auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das
Schriftstück "zugegangen" war, nach § 9 Abs. 1 VwZG a.F. auf den Zeitpunkt, in dem der
Empfangsberechtigte das Dokument "nachweislich erhalten" hatte. Beide Regelungen
wurden in ständiger Rechtsprechung dahingehend ausgelegt, dass der Empfänger das
Schriftstück "in den Händen halten" musste (vgl. z.B. BGH-Beschluss in NJW 1984, 926, und
BGH-Urteil in HFR 2001, 1200; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember
1996 6 C 6/95, BVerwGE 104, 1, und vom 18. April 1997 8 C 43/95, BVerwGE 104, 301).
Dafür, dass der Gesetzgeber bei einer Ausweitung der Heilung auf fristauslösende
Zustellungen von diesen Anforderungen an den Zugang abweichen und sie herabsetzen
wollte, gibt es keinen Anhaltspunkt. Bei der Neuordnung der Zustellungsvorschriften hat der
Gesetzgeber daran festgehalten, dass eine Zustellung in ihrer Grundform durch körperliche
Übergabe stattfindet (vgl. §§ 173, 177 ZPO). In dieses Konzept fügt sich danach auch
weiterhin ein, dass die Heilung eines Formfehlers bei einer anderen Zustellungsart das "In-
den-Händen-Halten" des Dokuments erfordert. Deshalb muss die jetzt gewählte
Formulierung in § 189 ZPO und in § 8 VwZG zumindest als klarstellende Festschreibung der
bisherigen Zugangsanforderungen, wenn nicht sogar im Hinblick auf die verschärften
Rechtsfolgen als weitere Erhöhung der Anforderungen an einen Zugang verstanden werden.
69 c) Eine teleologische Auslegung des § 189 ZPO muss die mit der Reform des
Zustellungsrechts verfolgten Ziele berücksichtigen. Die Ausweitung der Heilungsmöglichkeit
auf fristauslösende Zustellungen ist aus der Sicht eines Zustellungsadressaten eine
deutliche Verschärfung. Vor diesem Hintergrund ist die gleichzeitige Aufnahme des
Merkmals des "tatsächlichen" Zugangs als Begrenzung der Wirkungen einer Heilung von
Zustellungsfehlern zu verstehen. Die unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften
ausgeführte Zustellung soll eine Frist erst dann auslösen, wenn der Zustellungsempfänger
"tatsächlich" und nicht nur potenziell Kenntnis von dem Dokument nehmen kann
(Wieczorek/Schütze/Rohe, a.a.O., § 189 Rz 26). Das Merkmal "tatsächlich" ist danach als
das Gegenstück zu "fiktiv" zu verstehen.
70 Für diese Auslegung spricht auch das rechtsstaatliche Gebot einer folgerichtigen
Ausgestaltung des Verfahrensrechts. Demjenigen, der Adressat einer hoheitlich betriebenen
und unter Verletzung wesentlicher Formvorschriften ausgeführten Zustellung ist, dürfen
keine Nachteile aus der Heilung im Vergleich zu einer ordnungsgemäßen Zustellung
entstehen. Soweit die Heilung eine Frist auslöst, muss deshalb sichergestellt sein, dass die
Frist auch in vollem Umfang genutzt werden kann.
71 d) Eine an den Rechten des Adressaten orientierte Auslegung des § 189 ZPO ist
insbesondere in Bezug auf die Heilung einer Ersatzzustellung nach § 180 ZPO geboten.
Diese Form der Ersatzzustellung soll der Vereinfachung des Zustellungsverfahrens dienen
(s. dazu unter B.III.2.) und hat den Umfang der formellen Anforderungen an eine Zustellung
im Vergleich zur früheren Rechtslage weiter abgesenkt. Während die Zustellung in ihrer
ursprünglichen Gestalt als Übergabe des Dokuments an den Adressaten die Bestimmung
eines sicheren Zeitpunkts der möglichen Kenntnisnahme gestattet, kann dieser Zeitpunkt im
Fall der Ersatzzustellung nicht mehr konkret bestimmt werden. Die Zustellungsfiktion nach
§ 180 Satz 2 ZPO wird deswegen durch eine Fiktion auch des Zustellungszeitpunktes
ergänzt, die an objektive Kriterien anknüpft. Je zuverlässiger diese Kriterien festgestellt
werden können, umso eher kann angenommen werden, dass die Fiktion der Realität nahe
kommt.
72 Mit der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten knüpft das Gesetz im
Wesentlichen an Kriterien an, die nicht mit hoher Zuverlässigkeit festgestellt werden können,
weil ihre Verwirklichung nicht beobachtet werden kann und auch keine Amtsträger tätig
werden. Macht man die Fiktion des Zugangs von derartigen Kriterien abhängig (kritisch etwa
Meissner/Schenk in Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 56 Rz 11), verliert die fiktive
Bestimmung des Zugangszeitpunkts ihre Grundlage jedenfalls dann, wenn auch nur eines
dieser Kriterien infolge eines Zustellungsfehlers entfällt.
73 Entgegen der Auffassung des vorlegenden Senats bedeutet dies keine Besserstellung von
Adressaten fehlerhafter Zustellungen gegenüber Adressaten ordnungsgemäß ausgeführter
Zustellungen. Denn die Verwirklichung der Anknüpfungskriterien für die Fiktion liegt nicht im
Einflussbereich des Adressaten. Vielmehr kann nur anhand des von Dritten (Zusteller)
verwirklichten Anknüpfungskriteriums eine Zugangsfiktion begründet werden, nicht aber
ohne dieses Kriterium.
74 e) Werden bei Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten auf dem Umschlag (§ 180
Satz 3 ZPO) und auf der Zustellungsurkunde (§ 182 Abs. 2 Nr. 7 ZPO) nicht identische
Datumsangaben angebracht, entfällt nach den vorstehenden Überlegungen das
Anknüpfungskriterium für den fiktiven Zeitpunkt der Zustellung. Der Zeitpunkt kann dann nur
in Anlehnung an den Zeitpunkt der realen Kenntnisnahme bestimmt werden. Dieser wird
sich häufig nicht sicher feststellen lassen, so dass im Zweifel auf den Zeitpunkt abzustellen
ist, den der Adressat selbst als Zugangszeitpunkt angibt.
75 f) Soweit der vorlegende Senat "objektiv-rechtlichen Zwecken der Zustellungsvorschriften"
Vorrang vor dem Schutz des Adressaten einräumt, folgt der Große Senat dem nicht.
Objektiver Zustellungszweck soll danach sein, "den Zeitpunkt der Zustellung auch im Fall
der Heilung einer zunächst fehlgeschlagenen Zustellung rechtssicher bestimmen zu
können". Dieser Zweckbestimmung mag für den Fall der ordnungsgemäß ausgeführten
Zustellung zu folgen sein. Bei einer fehlerhaften Zustellung wird dieses Ziel aber gerade
verfehlt, so dass zu seiner Erreichung an sich eine erneute und nun ordnungsgemäße
Zustellung erforderlich wäre. Wenn das Gesetz aus Vereinfachungsgründen eine Heilung
von Zustellungsmängeln vorsieht, stellt es den Zweck der Zustellung, dem Empfänger die
Kenntnis vom Inhalt eines Dokuments zu ermöglichen, in den Vordergrund. Die
rechtssichere Bestimmung des Zeitpunkts der Zustellung tritt dahinter zurück. Sie kann dann
auch keinen Vorrang vor den Regelungen des Zustellungsrechts haben, die den Empfänger
schützen, insbesondere die rechtssichere Bestimmung der ihm gegenüber in Gang
gesetzten Frist ermöglichen sollen (vgl. MünchKommZPO/Häublein, a.a.O., § 180 Rz 7 i.V.m.
§ 181 Rz 12; a.A. Zöller/Stöber, a.a.O., § 189 Rz 17).
76 Keinen Vorrang können auch die Interessen des Zustellenden haben. Das Risiko einer
misslungenen Zustellung hat derjenige zu tragen, der mit der Zustellung fristgebundene
Rechtsfolgen auslösen will. Dies war schon nach bisheriger Rechtslage so, als eine Heilung
bei fristauslösenden Zustellungen nicht möglich war. Es ist nicht ersichtlich, dass die
Vereinfachung des Zustellungsrechts Änderungen an dieser Risikoverteilung mit sich
bringen sollte. Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs das Interesse der zustellenden
Partei in den Vordergrund gerückt wird (BTDrucks 14/4554, 24 f.), betrifft dies nur den
Zugang des Dokuments selbst, nicht aber den Zeitpunkt des Zugangs.
77 C. Der Große Senat beantwortet die ihm vorgelegte Frage wie folgt:
78 Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende
Zustellungsvorschriften, weil der Zusteller entgegen § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag
des zuzustellenden Dokuments das Datum der Zustellung nicht vermerkt hat, ist das
zuzustellende Dokument i.S. des § 189 ZPO in dem Zeitpunkt dem Empfänger tatsächlich
zugegangen, in dem er das Dokument in die Hand bekommt.