Urteil des BFH vom 19.06.2013

Zur Gewährung des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen und zu den Grenzen einer rückwirkenden Rechnungsberichtigung - Abrechnung über eine einheitliche Leistung - Zweck des § 233a AO

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 19.6.2013, XI R 41/10
Zur Gewährung des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen und zu den Grenzen einer
rückwirkenden Rechnungsberichtigung - Abrechnung über eine einheitliche Leistung - Zweck des
§ 233a AO
Leitsätze
1. Die Gewährung des Vorsteuerabzugs unter dem Gesichtspunkt einer rückwirkenden
Rechnungsberichtigung setzt --auch im Wege einer Billigkeitsmaßnahme-- voraus, dass die zu
berichtigende Rechnung falsche oder unvollständige Angaben enthält, die einer Berichtigung
zugänglich wären.
2. Die für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, dass die Vorsteuer erst in dem
Veranlagungszeitraum abgezogen werden kann, in dem ihm auch die Rechnung vorliegt, beruht
auf einer bewussten Anordnung des Gesetzgebers, die nicht durch eine Billigkeitsmaßnahme
unterlaufen werden darf.
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten im Hinblick auf festgesetzte Nachzahlungszinsen darum, ob ein
Vorsteuerabzug statt --wie bisher-- (erst) im Besteuerungszeitraum 2007 zuzulassen ist, in
dem über Leistungen Rechnungen erteilt wurden, oder ob der Vorsteuerabzug aus Gründen
der Billigkeit bereits in den Streitjahren 1999 bis 2005 zu gewähren ist, in denen die
Leistungen erbracht wurden, mit der Folge, dass die Grundlage für die Festsetzung von
Nachzahlungszinsen entfällt.
2 Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Verlagsgesellschaft, die u.a.
Tageszeitungen herstellt und vertreibt. Am 12. Februar 1999 schloss sie mit der X-AG eine
Vereinbarung, deren § 1 ihr das ausschließliche Recht einräumte, regelmäßig erscheinende
kostenlose Printprodukte in von der X-AG im Linienverkehr eingesetzten Straßenbahnen und
Bussen sowie an Stationen und Haltestellen zu vertreiben.
3
Die Klägerin hatte gemäß § 3 der Vereinbarung hierfür u.a. folgende Gegenleistungen zu
erbringen:
Gemäß § 3 Ziff. 1 und 2 verpflichtet sich die Klägerin, "jeweils wöchentlich dienstags
eine 1/1 Seite in der ... und in der ... vierfarbig mit 'Nahverkehrs-news', Mitteilungen,
Geschäftsberichten und/oder Anzeigen" von der X-AG zu veröffentlichen.
Die sog. Nahverkehrs-news sollten "in Zusammenarbeit von ...-Redaktion und den für
Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Mitarbeitern" der X-AG "unter der publizistischen
Verantwortung der ...-Redaktion" erstellt werden.
Nach § 3 Ziff. 6 wird sich die Klägerin an den durch die X-AG "zu erbringenden
Redaktions- und Gestaltungsleistungen für die 1/1 Seite (vgl. Ziff. 1 Abs. 2 S. 1) mit
... DM jährlich beteiligen. Der Betrag ist in vier gleichen Raten jeweils zur Mitte eines
Kalendervierteljahres zu zahlen ...".
§ 5 der Vereinbarung bewertete die Leistungen wie folgt:
"1. Die als Gegenleistung für die Einräumung des alleinigen Vertriebsrechts" seitens
der X-AG von der Klägerin "zu erbringenden Leistungen (§ 3) werden wie folgt jährlich
bewertet:
Media-Leistungen gem. § 3 Ziff. 1 u. 2
... DM
Abgeltung der Redaktionsleistungen von [X-AG] gem. § 3 Ziff. 6
... DM
Besondere Hinweise gem. § 3 Ziff. 7
... DM
Interne Kosten [der Klägerin]
... DM
... DM
Die Media-Leistungen gem. § 3 Ziff. 1 und 2 sowie die Hinweise gem. § 3 Ziff. 7 sind
zu Netto-Listenpreisen ohne Rabattierung errechnet. Die internen Kosten entsprechen
der Kostenstruktur bei der [Klägerin]. ...
2. Es besteht Einigkeit darüber, dass keine der von [der Klägerin] zu erbringenden
Gegenleistungen zusätzlich vergütungspflichtig ist, und zwar auch nicht bei einem
Steigen oder Fallen der Anzeigenpreise."
4 Die Vertragsparteien sahen die gegenseitigen Leistungen als gleichwertig an, so dass sie
darüber keine Rechnungen ausstellten. Im Juni 2007 --so das FG-- "stellten die
Vertragsparteien die Steuerbarkeit und Steuerpflicht des Leistungsaustausches ...
übereinstimmend fest", erteilten sich daraufhin über die in den Jahren 1999 bis 2006
erbrachten gegenseitigen Leistungen Rechnungen, verrechneten den jeweils offenen Betrag
mit dem jeweiligen Gegenanspruch und wiesen dabei Umsatzsteuer offen aus. In den
Rechnungen der X-AG an die Klägerin wird mit der "Referenz: Lt. Vereinbarung vom
12.2.1999 Vertriebsrecht § 1" jeweils unter dem Datum 4. Juni 2007 wie folgt abgerechnet:
5
Bezeichnung
Preis in
EUR
Umsatzsteuer in EUR Gesamt in EUR
1999
Vertriebsrecht § 1
... ...
...
2000
Vertriebsrecht § 1
... ...
...
2001
Vertriebsrecht § 1
... ...
...
2002
Vertriebsrecht § 1
... ...
...
2003
Vertriebsrecht § 1
... ...
...
2004
Vertriebsrecht § 1
... ...
...
2005
Vertriebsrecht § 1
... ...
...
6 Sämtliche Rechnungen enthalten die Hinweise "Diese Rechnung wird mit Gegenrechnung
verrechnet" und "Fällig: am 04.06.07".
7 Die Klägerin gab für die Jahre 1999 bis 2006 berichtigte Umsatzsteuererklärungen ab und
brachte die ihr von der X-AG in den Rechnungen vom 4. Juni 2007 in Rechnung gestellte
Umsatzsteuer in der Umsatzsteuer-Voranmeldung für den Monat Juli 2007 als Vorsteuer in
Abzug.
8 Mit Schreiben vom 25. Juli 2007 beantragte die Klägerin, Nachzahlungszinsen nach § 233a
der Abgabenordnung (AO) aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO nicht festzusetzen.
Diesen Antrag lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) mit
Bescheid vom 27. August 2007 ab und setzte die Umsatzsteuer entsprechend den von der
Klägerin berichtigten Umsatzsteuererklärungen fest. Ferner setzte das FA jeweils mit
Bescheiden vom 13. September 2007 Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 1999 bis 2005
fest; die Nachzahlungszinsen beliefen sich auf insgesamt ... EUR.
9 Gegen den ablehnenden Bescheid vom 27. August 2007 legte die Klägerin unter dem
24. September 2007 Einspruch ein, den das FA mit Einspruchsentscheidung vom
29. Februar 2008 als unbegründet zurückwies. Die hiergegen erhobene Klage nahm die
Klägerin mit Schreiben vom 28. Juli 2008 zurück. Unter dem gleichen Datum nahm sie ferner
ihren Einspruch vom 27. September 2007 gegen die Zinsbescheide vom 13. September
2007 zurück.
10 Mit Schreiben vom 10. September 2008 beantragte die Klägerin, nach § 163 AO i.V.m.
Abschn. 202 Abs. 7 der Umsatzsteuer-Richtlinien (UStR) den Vorsteuerabzug aus den
genannten Rechnungen aus sachlichen Billigkeitsgründen rückwirkend in den Jahren des
Leistungsbezugs, d.h. 1999 bis 2005, zuzulassen. Das FA lehnte den Antrag mit Bescheid
vom 9. Oktober 2008 ab. Den Einspruch wies es mit Einspruchsentscheidung vom
25. November 2008 zurück. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe mehrfach entschieden, dass
die Festsetzung der Umsatzsteuer beim leistenden Unternehmer auch dann nicht sachlich
unbillig sei, wenn sie bei ordnungsgemäßer Inrechnungstellung vom Leistungsempfänger
als Vorsteuer abgezogen werden könne. Nach der Systematik des Umsatzsteuergesetzes
komme es für die Entstehung der Steuerschuld nicht darauf an, ob der Fiskus bei "korrekter
Gestaltung" die Umsatzsteuer erhalten hätte. Das umsatzsteuerrechtliche Neutralitätsprinzip
fordere nicht zwingend, dass sich der Vorsteuerabzug bereits bei Zahlung der vereinbarten
Gegenleistung und damit bei Abführung der Vorsteuer auswirken müsse. Im vorliegenden
Fall stehe der Festsetzung der Umsatzsteuer für die Jahre 1999 bis 2006 ein
Vorsteuerabzug in gleicher Höhe für den Voranmeldungszeitraum Juni 2007 gegenüber.
Wirtschaftlich sei der Unternehmer durch die Umsatzsteuer somit im Ergebnis nicht belastet.
Eine abweichende Festsetzung der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen komme daher nicht
in Betracht.
11 Die Klägerin erhob hierauf Klage. In der mündlichen Verhandlung vom 25. Oktober 2010
ergänzte sie den Sachverhalt nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG)
dahingehend, man habe nunmehr festgestellt, dass die X-AG auf der Grundlage von § 3
Ziff. 6 des Vertrages vom 12. Februar 1999 in den Streitjahren Teilrechnungen an die
Klägerin erteilt habe. Diese Abrechnungen bezögen sich auf die durch die X-AG zu
erbringenden Gestaltungsleistungen. Aus dem Leistungsspektrum der in § 5 Ziff. 1
bewerteten Leistungen von insgesamt ... DM seien mithin ... DM über Rechnungen mit
Umsatzsteuerausweis abgerechnet worden. In den hierzu vorgelegten und vom FG in Bezug
genommenen Rechnungen der X-AG heißt es unter Verweis auf die Vereinbarung bspw. für
das Jahr 2001:
12
"Wir berechnen Ihnen – abgeleitet aus dem o.a. Vertrag – die jeweils zur Mitte eines
Quartals fälligen Zahlungsraten wie nachstehend:
1. Zahlung: fällig: 15.02.2001
... DM
16 % MWSt.
... DM
... DM
2. Zahlung: fällig: 15.05.2001
... DM
16 % MWSt.
... DM
... DM
3. Zahlung: fällig: 15.08.2001
... DM
16 % MWSt.
... DM
... DM
4. Zahlung: fällig: 15.11.2001
... DM
16 % MWSt
... DM
... DM
... DM
Rechnung ist zahlbar rein netto
Zahlung erbitten wir in Deutsche Mark"
13 Ferner wies die Klägerin darauf hin, die Steuerfestsetzungen hätten zum Zeitpunkt des
Antrags vom 10. September 2008, den Vorsteuerabzug in den Jahren des Leistungsbezugs
1999 bis 2005 zuzulassen, noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gestanden. Der
Sachverhalt sei daher mit dem in dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union
(EuGH) vom 15. Juli 2010 C-368/09 --Pannon Gép-- (Slg. 2010, I-7467, Umsatzsteuer-
Rundschau --UR-- 2010, 693) vergleichbar.
14 Das FG wies die Klage als unbegründet ab. Die Entscheidung ist abgedruckt in Deutsches
Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2011, 1337.
15 Die Festsetzung der streitigen Umsatzsteuerbeträge für die Jahre 1999 bis 2005 sei nicht
sachlich unbillig. Dabei ließ das FG die Frage, ob es sich bei den Rechnungen der X-AG
vom 4. Juni 2007 überhaupt um Rechnungsberichtigungen handeln könne, im Ergebnis mit
der Begründung offen, die Klage sei jedenfalls wegen der fehlenden Rückwirkung einer
etwaigen Rechnungsberichtigung auf die Streitjahre abzuweisen.
16 Mit ihrer Revision macht die Klägerin fehlerhafte Tatsachenfeststellungen und Verletzung
materiellen Rechts geltend.
17 (1) Im Streitfall handele es sich um einen tauschähnlichen Umsatz i.S. des § 3 Abs. 12
Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) mit Baraufgabe. Die X-AG habe aufgrund ihrer
Ansprüche aus § 3 Ziff. 6 in den jeweiligen Jahren Rechnungen erteilt und die darin
ausgewiesene Umsatzsteuer abgeführt, und sie, die Klägerin, habe die Steuer insoweit als
ausgewiesene Umsatzsteuer abgeführt, und sie, die Klägerin, habe die Steuer insoweit als
Vorsteuer abgezogen. Das in diesen Rechnungen ausgewiesene Entgelt habe jedoch nicht
die getauschten gegenseitigen (sonstigen) Leistungen insgesamt umfasst. Diesen Mangel
hätten die Vertragsparteien erst im Juni 2007 erkannt und sich die Rechnungen vom 4. Juni
2007 gegenseitig ausgestellt, den jeweils offenen Betrag mit dem Gegenanspruch
verrechnet und die Umsatzsteuer offen ausgewiesen.
18 (2) Entgegen der Auffassung des FG seien die Umsatzsteuerfestsetzungen der Streitjahre
nicht bestandskräftig. Insoweit werde unzutreffende Tatsachenfeststellung gerügt. Als
offenkundig unzutreffend und verfahrensfehlerhaft werde ferner die Vertragsauslegung von
§ 3 Ziff. 6 durch das FG gerügt, sowie die daraus abgeleitete Schlussfolgerung des FG, die
in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Rechnungen würden nicht von dem in § 5
bewerteten tauschähnlichen Umsatz umfasst, sondern rechneten über zusätzliche
Leistungen der X-AG ab. Hier habe das FG offenbar die Vertragsparteien verwechselt, denn
die Regelung in § 5 Ziff. 2, auf die sich das FG bei seiner Auslegung berufe, beziehe sich nur
auf ihre Leistungen, nicht aber auf solche der X-AG, über die in den Rechnungen
abgerechnet werde.
19 (3) Bei unionsrechtskonformer Auslegung sei der Vorsteuerabzug im Falle einer
Rechnungsberichtigung rückwirkend auf den Zeitpunkt der ursprünglichen
Rechnungserteilung zu gewähren. Dies ergebe sich aus dem EuGH-Urteil --Pannon Gép--
(Slg. 2010, I-7467, UR 2010, 693).
20 Es könne dahinstehen, ob bereits die Vereinbarung vom 12. Februar 1999 als
(unvollständige) Rechnung anzusehen sei, denn jedenfalls bezögen sich die in der
mündlichen Verhandlung vorgelegten Rechnungen auf einen Teil des in der Vereinbarung
beschriebenen Leistungsaustausches, nämlich auf § 3 Ziff. 1 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 3 Ziff. 6,
der das in § 5 Ziff. 1 bezeichnete Baraufgabe-Element darstelle. Es handele sich somit um
Teilrechnungen. Die Gesamtheit, bestehend aus diesen Teilrechnungen, den
Abrechnungsdokumenten vom 4. Juni 2007 und der Vereinbarung vom 12. Februar 1999,
erfülle alle Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 UStG; sie stelle eine zum Vorsteuerabzug
berechtigende Rechnung i.S. von Abschn. 183 Abs. 1 Satz 1 UStR dar.
21 Im Falle der Berichtigung einer Rechnung gelte nach dem Urteil des EuGH --Pannon Gép--
(Slg. 2010, I-7467, UR 2010, 693) nicht mehr uneingeschränkt, dass die Vorsteuer erst in
dem Besteuerungszeitraum abgezogen werden könne, in dem eine ordnungsgemäße
Rechnung vorliege. Vielmehr könnten bspw. falsche oder fehlende Angaben zum Entgelt
und zum Steuerbetrag korrigiert bzw. ergänzt werden - und zwar rückwirkend auf das Jahr
der ersten Rechnungsstellung; und zwar jedenfalls dann, wenn alle materiell- und formell-
rechtlichen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug erfüllt und die berichtigten
Rechnungen alle vorgeschriebenen Angaben enthalten. Der Streitfall sei nicht mit der vom
EuGH und vom BFH entschiedenen Rs. --Terra Baubedarf-- (vgl. EuGH-Urteil vom 29. April
2004 C-152/02, Slg. 2004, I-5583, BFH/NV Beilage 2004, 229; BFH-Urteil vom 1. Juli 2004
V R 33/01, BFHE 206, 463, BStBl II 2004, 861) vergleichbar, denn dort sei es nicht um eine
Rechnungsberichtigung gegangen, sondern um einen erstmalig geltend gemachten
Vorsteuerabzug.
22 Der rückwirkende Vorsteuerabzug sei jedenfalls im Billigkeitswege zu gewähren, weil es ihr,
der Klägerin, im Zeitpunkt der Antragstellung angesichts der seinerzeitigen Rechtsprechung
nicht zumutbar gewesen sei, ihre Rechtsauffassung im Rahmen des Festsetzungsverfahrens
zu verfolgen. Die Ausübung des in § 163 AO vorgesehenen Ermessens sei vorliegend auf
Null reduziert, weil das Unionsrecht die Anwendung einer Billigkeitsmaßnahme erfordere.
Auch begehre sie nicht die Korrektur eines bestandskräftigen Steuerbescheides.
23 (4) Selbst wenn die Voraussetzungen einer Rückwirkung auf den Besteuerungszeitraum der
erstmaligen Rechnungserteilung nicht vorliegen sollten, könne ausnahmsweise im
Billigkeitsverfahren nach den allgemeinen Grundsätzen der Belastungsneutralität und der
Verhältnismäßigkeit ein Vorsteuerabzug mit Rückwirkung auf den Besteuerungszeitraum der
Abführung der Vorsteuer zu gewähren sein. Ein solcher Ausnahmefall liege vor, weil sie, die
Klägerin, die Vorsteuer bereits in den Streitjahren (im Wege der Verrechnung) an die
leistende X-AG bezahlt und diese sie abgeführt habe, in gutem Glauben auf die
Ordnungsmäßigkeit der erteilten (Teil-)Rechnungen gehandelt habe und das
Steueraufkommen nicht gefährdet gewesen sei.
24 Der Streitfall sei auch insoweit nicht mit der Rs. --Terra Baubedarf-- (Slg. 2004, I-5583,
BFH/NV Beilage 2004, 229) vergleichbar, weil dort der Steuerpflichtige die Zahlung der
Rechnung an den Leistenden erst nach Erhalt der Rechnung vorgenommen habe. Hier aber
verlange das Neutralitätsgebot der "vollständigen und sofortigen" Entlastung nicht nur die
betragsmäßige, sondern auch die zeitliche Korrespondenz von Steuerabführung und
Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger. Die Entscheidung --Terra Baubedarf-- (Slg.
2004, I-5583, BFH/NV Beilage 2004, 229) gelte nur für den dort in Rz 35 des EuGH-Urteils
dargestellten Normalfall. Denn dort heiße es: "dem liegt die Annahme zugrunde, dass die
Steuerpflichtigen grundsätzlich keine Zahlungen vornehmen und daher keine Vorsteuer
abführen, bevor sie eine Rechnung oder ein anderes, als Rechnung zu betrachtendes
Dokument erhalten haben, und dass nicht von der Belastung eines Umsatzes mit der
Mehrwertsteuer ausgegangen werden kann, bevor diese abgeführt wurde."
25 Die erhobenen Nachzahlungs- und Erstattungszinsen seien unter dem Gesichtspunkt der
Be- und Entlastung des Steuerpflichtigen in materieller Hinsicht "Zuschläge zur Steuer". Das
ergebe sich auch aus dem BFH-Urteil vom 17. April 2008 V R 41/06 (BFHE 221, 498, BStBl
II 2009, 2), demzufolge der Steuervergütungsanspruch nach § 18 Abs. 9 UStG 1993 i.V.m.
§§ 59 ff. der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung 1993 auf einer "Festsetzung der
Umsatzsteuer" i.S. des § 233a Abs. 1 Satz 1 AO beruht und deshalb nach näherer Maßgabe
des § 233a AO zu verzinsen ist.
26 Der Zinsnachteil für sie, die Klägerin, sei offenkundig. Obwohl sie lediglich als
Steuereinnehmerin für den Fiskus tätig werde und das Steueraufkommen zu keiner Zeit
gemindert oder auch nur gefährdet gewesen sei, habe das FA Nachzahlungszinsen
festgesetzt. In einem solchen Fall gebiete der Grundsatz der Steuerneutralität, den
Vorsteuerabzug rückwirkend für den Besteuerungszeitraum zuzulassen, in dem die
Vorsteuer an den leistenden Unternehmer bezahlt worden sei. Sie verweist hierzu auch auf
das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 1. Dezember 2008 IV B 8 -
S 7203/07/10002 (BStBl I 2008, 992), das eine Billigkeitsregelung bei Umsätzen im
Rahmen der Abgabe werthaltiger Abfälle vorsehe.
27 Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der Vorentscheidung, der Einspruchsentscheidung vom 25. November
2008 sowie des Bescheides vom 9. Oktober 2008 das FA zu verpflichten, "den
Vorsteuerabzug in Höhe von insgesamt ... EUR aus sachlichen Billigkeitsgründen statt im
Besteuerungszeitraum 2007 rückwirkend in den Besteuerungszeiträumen der erstmaligen
Rechnungserteilung" wie folgt vorzunehmen:
Veranlagungszeitraum
Vorsteuer in EUR
1999
...
2000
...
2001
...
2002
...
2003
...
2004
...
2005
...
hilfsweise,
den Vorsteuerabzug aus sachlichen Billigkeitsgründen "rückwirkend in den
Besteuerungszeiträumen zuzulassen, in denen die Vorsteuer an den leistenden
Unternehmer in zutreffender Höhe entrichtet wurde",
weiter hilfsweise "die Rechtsfrage des rückwirkenden Vorsteuerabzuges" dem EuGH zur
Vorabentscheidung vorzulegen.
28 Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
29 Es verweist auf die Ausführungen in seiner Einspruchsentscheidung vom 25. November
2008 sowie auf das FG-Urteil. Im Übrigen handele es sich vorliegend nicht um eine
Rechnungsberichtigung, die Beteiligten hätten vielmehr aus den vorliegenden
tauschähnlichen Umsätzen nicht die gebotenen umsatzsteuerrechtlichen Folgerungen
gezogen. In seiner Entscheidung --Pannon Gép-- (Slg. 2010, I-7467, UR 2010, 693) habe der
EuGH weder zum Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs Stellung genommen noch den Begriff der
Rückwirkung oder der rückwirkenden Kraft einer Berichtigung benutzt. Auch eine
Billigkeitsmaßnahme nach Abschn. 202 Abs. 7 UStR komme nicht in Betracht (Hinweis auf
Abschn. 202 Abs. 7 Satz 2 Nr. 1 Satz 9 UStR).
Entscheidungsgründe
30 II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie war daher nach § 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat die Klage auf abweichende
Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu Recht abgewiesen.
31 1. Nach § 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne die
Steuer erhöhende Besteuerungsgrundlagen unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung
der Steuer nach Lage des einzelnen Falls aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen
unbillig wäre.
32 Die nach § 163 AO zu treffende Billigkeitsentscheidung ist eine Ermessensentscheidung der
Finanzbehörde i.S. des § 5 AO, die grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher
Nachprüfung unterliegt (§ 102, § 121 FGO). Sie kann im finanzgerichtlichen Verfahren nur
dahin geprüft werden, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung des Verwaltungsakts
rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von
dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise
Gebrauch gemacht wurde (ständige Rechtsprechung, vgl. Beschluss des Gemeinsamen
Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BStBl
II 1972, 603; BFH-Urteile vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995,
297; vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201; vom 7. Oktober
2010 V R 17/09, BFH/NV 2011, 865; vom 6. September 2011 VIII R 55/10, BFH/NV 2012,
269; vom 14. März 2012XI R 28/09, BFH/NV 2012, 1493, jeweils m.w.N.). Stellt das Gericht
eine Ermessensüberschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die
Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur in den Fällen der
sog. Ermessensreduzierung auf Null ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der
Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (ständige Rechtsprechung, vgl.
Senatsurteil in BFH/NV 2012, 1493).
33 2. Die Festsetzung einer Steuer ist aus sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar dem
Wortlaut des Gesetzes entspricht, aber den Wertungen des Gesetzes zuwiderläuft (vgl. BFH-
Urteile vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259; vom 18. Dezember
2007 VI R 13/05, BFH/NV 2008, 794; in BFH/NV 2011, 865, m.w.N.). Das setzt voraus, dass
der Gesetzgeber die Grundlagen für die Steuerfestsetzung anders als tatsächlich geschehen
geregelt hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte (vgl.
BFH-Beschluss vom 12. September 2007 X B 18/03, BFH/NV 2008, 102, m.w.N.). Eine für
den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet
oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt dagegen keine Billigkeitsmaßnahme (vgl.
Senatsurteil in BFH/NV 2012, 1493, m.w.N.).
34 3. Rechtsfehlerfrei hat das FG erkannt, dass das FA die Voraussetzungen der hier allein in
Betracht kommenden sachlichen Unbilligkeit zutreffend verneint hat.
35 a) Die Klägerin hat unter dem Gesichtspunkt einer Rechnungsberichtigung keinen Anspruch
darauf, den aus den Rechnungen vom 4. Juni 2007 geltend gemachten Vorsteuerabzug in
Höhe von insgesamt ... EUR aus sachlichen Billigkeitsgründen statt im
Veranlagungszeitraum 2007 rückwirkend in den Besteuerungszeiträumen 1999 bis 2005
vornehmen zu können.
36 aa) Sie trägt hierzu zwar vor, diese Möglichkeit habe sich erst aufgrund des EuGH-Urteils --
Pannon Gép-- (Slg. 2010, I-7467, UR 2010, 693) ergeben und es sei ihr daher im Zeitpunkt
der Antragstellung nicht zumutbar gewesen, ihre Rechtsauffassung im Rahmen des
Festsetzungsverfahrens zu verfolgen.
37 bb) Sie kann den Vorsteuerabzug aber unter dem Gesichtspunkt einer rückwirkenden
Rechnungsberichtigung bereits deshalb nicht --auch nicht im Wege einer
Billigkeitsmaßnahme-- in den Streitjahren 1999 bis 2005 geltend machen, weil die in diesen
Jahren laufend ausgestellten Rechnungen keine falschen oder unvollständigen Angaben
enthalten, die einer Berichtigung zugänglich wären.
38 Der Sachverhalt unterscheidet sich insoweit von dem in dem EuGH-Urteil --Pannon Gép--
(Slg. 2010, I-7467, UR 2010, 693), in dem die zunächst ausgestellten Rechnungen
unrichtige Daten des Abschlusses der Dienstleistungen aufwiesen. Der EuGH hat dazu
entschieden, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehe,
"nach der die nationalen Behörden einem Steuerpflichtigen das Recht, den für ihm erbrachte
Dienstleistungen geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuerbetrag von der von ihm
geschuldeten Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen, mit der Begründung absprechen,
dass die ursprüngliche Rechnung, die zum Zeitpunkt der Vornahme des Vorsteuerabzugs in
seinem Besitz war, ein falsches Datum des Abschlusses der Dienstleistung aufgewiesen
habe und dass die später berichtigte Rechnung und die die ursprüngliche Rechnung
aufhebende Gutschrift nicht fortlaufend nummeriert gewesen seien (...), wenn die materiell-
rechtlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug erfüllt sind und der Steuerpflichtige der
betreffenden Behörde vor Erlass ihrer Entscheidung eine berichtigte Rechnung zugeleitet
hat, in der das zutreffende Datum des Abschlusses der genannten Dienstleistung vermerkt
war, auch wenn diese Rechnung und die die ursprüngliche Rechnung aufhebende Gutschrift
keine fortlaufende Nummerierung aufweisen".
39 cc) Selbst wenn man zugunsten der Klägerin davon ausgeht, dass sie gegenüber der X-AG
eine einheitliche Leistung erbracht und von dieser eine ebensolche empfangen habe, und
dass die in den Streitjahren von der X-AG ausgestellten Rechnungen über jährlich
insgesamt ... DM zuzüglich Umsatzsteuer sich auf die Redaktions- und
Gestaltungsleistungeni.S. des § 3 Ziff. 6 der Vereinbarung bezogen haben und somit
Teilrechnungen bzgl. der Gesamtleistungen der X-AG darstellen, können die am 4. Juni
2007 ausgestellten Rechnungen nicht als (ggf. rückwirkende) Berichtigungen hinsichtlich der
für die Redaktions- und Gestaltungsleistungen ausgestellten Rechnungen anerkannt
werden.
40 Nach dem Vortrag der Klägerin beziehen sich die Teilabrechnungen ausschließlich auf die
in der Vereinbarung benannten Redaktions- und Gestaltungsleistungen der X-AG und
stellen das dort angegebene Entgelt "in Rechnung". Mit ihnen wird somit zutreffend über
einen Teilaspekt der von der X-AG erbrachten Hauptleistung abgerechnet. Da die
Rechnungen als solche weder falsch noch lückenhaft sind, besteht kein Anlass, sie zu
berichtigen. Ebenso wenig sind die Rechnungen vom 4. Juni 2007 als Berichtigungen der
zuvor erstellten Rechnungen anzusehen. Weder verweisen sie auf die bereits erteilten
Rechnungen, noch ergibt sich aus ihnen in anderer Weise, dass sie diese berichtigen sollen.
Vielmehr handelt es sich um weitere, das eingeräumte Vertriebsrecht betreffende
Teilrechnungen. Über eine einheitliche Leistung muss nicht in einer Gesamtrechnung
abgerechnet werden, vielmehr können auch mehrere Teilrechnungen erstellt werden, mit
denen über die Gesamtleistung insgesamt abgerechnet wird.
41 dd) Mangels einer Rechnungsberichtigung bedarf es keiner Erörterung, ob und ggf. unter
welchen Voraussetzungen eine solche umsatzsteuerrechtlich rückwirkend zu
berücksichtigen ist (vgl. dazu auch EuGH-Urteil vom 8. Mai 2013 C-271/12 --Petroma
Transports SA--, Mehrwertsteuerrecht --MwStR-- 2013, 272, UR 2013, 591, und Slapio,
MwStR 2013, 333).
42 b) Desgleichen hat die Klägerin keinen Anspruch darauf, die geltend gemachte Vorsteuer in
Höhe von insgesamt ... EUR deshalb aus sachlichen Billigkeitsgründen rückwirkend in den
Besteuerungszeiträumen 1999 bis 2005 abzuziehen, weil sie die Umsatzsteuer in diesen
Jahren an die X-AG --im Wege der Verrechnung mit den von ihr an die X-AG erbrachten
Leistungen-- entrichtet hat.
43 aa) Ein Unternehmer kann nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG die gesetzlich
geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen
Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind (Eingangsleistungen), als
Vorsteuerbetrag abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der
Unternehmer eine nach § 14 UStG ausgestellte Rechnung besitzt (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Satz 2 UStG). Die Vorsteuerbeträge können erst in dem Besteuerungszeitraum abgezogen
werden, in dem die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen i.S. des § 15 Abs. 1
Nr. 1 Satz 1 UStG insgesamt vorliegen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 206, 463, BStBl II 2004,
861, und vom 2. September 2010 V R 55/09, BFHE 231, 332, BStBl II 2011, 235, jeweils
m.w.N.).
44 bb) Auch nach dem EuGH-Urteil --Terra Baubedarf-- (Slg. 2004, I-5583, BFH/NV Beilage
2004, 229) ist für den Vorsteuerabzug nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie dahin
auszulegen, dass das Vorsteuerabzugsrecht für den Erklärungszeitraum auszuüben ist, in
dem die beiden nach dieser Bestimmung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind,
nämlich dass die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung bewirkt wurde und
dass der Steuerpflichtige die Rechnung oder das Dokument besitzt, das nach den von den
Mitgliedstaaten festgelegten Kriterien als Rechnung betrachtet werden kann.
45 Entgegen der Auffassung der Klägerin folgt aus Rz 35 dieses Urteils sowie aus dem
unionsrechtlichen Grundsatz der Belastungsneutralität der Mehrwertsteuer nicht "die
zeitliche Korrespondenz von Abführung der Vorsteuer an den leistenden Unternehmer und
Vorsteuerabzug des empfangenden Unternehmers". Dies ergibt sich eindeutig aus einer
Gesamtschau der vom EuGH für seine Auffassung in den Rz 34 bis 37 des Urteils
gegebenen Begründung und aus der Verwendung des Wortes "grundsätzlich" in Rz 35 des
Urteils.
46 cc) Daraus ergibt sich, dass die Klägerin den streitigen Vorsteuerabzug in den Streitjahren
1999 bis 2005, in denen ihr die dazugehörigen Rechnungen noch nicht vorlagen, nicht (auch
nicht rückwirkend) geltend machen kann; ob sie die in der Rechnung ausgewiesene
Umsatzsteuer dem Leistungserbringer --hier im Wege der Verrechnung mit eigenen
Leistungen-- bezahlt hat, ist nach dem Gesetz unerheblich.
47 Die für die Klägerin ungünstige Rechtsfolge, dass die Vorsteuer erst in dem
Veranlagungszeitraum abgezogen werden kann, in dem ihr auch die Rechnung vorliegt,
beruht auf einer bewussten Anordnung des Gesetzgebers, die nicht durch eine
Billigkeitsmaßnahme unterlaufen werden darf. Aus Abschn. 202 Abs. 7 UStR und aus dem
ferner von der Klägerin genannten BMF-Schreiben in BStBl I 2008, 992 ergibt sich nichts
anderes.
48 c) Zu keinem anderen Ergebnis führt der Hinweis der Klägerin auf die erhobenen
Nachzahlungszinsen, die ihrer Ansicht nach in materieller Hinsicht "Zuschläge zur Steuer"
darstellen. Denn der geltend gemachte Zinsnachteil ergibt sich aus der Technik der
Umsatzsteuererhebung einerseits und der nationalen Regelung der sog. Vollverzinsung in
§ 233a AO andererseits.
49 aa) Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 UStG ist der Besteuerungszeitraum das Kalenderjahr; gemäß
§ 16 Abs. 1 Satz 3 UStG ist bei der Berechnung der Steuer von der Summe der Umsätze
nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 und 5 UStG auszugehen. Danach waren aufgrund der im Jahre 2007
erteilten Rechnungen die Umsatzsteuerbescheide der Klägerin für die Jahre 1999 bis 2005
abzuändern und die in diesen Jahren geschuldete Umsatzsteuer entsprechend der von ihr
an die X-AG erbrachten Leistungen zu erhöhen. Wird die Umsatzsteuerfestsetzung --wie im
Streitfall-- geändert, ist der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und der
vorher festgesetzten Steuer maßgebend für die Zinsberechnung (§ 233a Abs. 5 Sätze 1 und
2 AO). Die sich daraus ergebenden Nachzahlungszinsen belasten die Klägerin im Streitfall
mit einem Betrag in Höhe von insgesamt ... EUR.
50 Eine Festsetzung vergleichbarer Nachzahlungszinsen zugunsten der Klägerin wegen des
unterlassenen Abzugs der korrespondierenden Vorsteuern in den Jahren 1999 bis 2005
scheidet demgegenüber mangels zu verzinsender Steuerforderungen aus. Zwar ergibt sich
hinsichtlich des Vorsteuerabzugs aus den Rechnungen vom 4. Juni 2007 aus § 16 Abs. 2
Satz 1 UStG, dass von der nach § 16 Abs. 1 UStG berechneten Steuer die in den
Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge
abzusetzen sind. Diese Vorsteuerbeträge sind aber erst in dem Besteuerungszeitraum
abziehbar, in dem die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen i.S. des § 15 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG insgesamt vorliegen, d.h. in dem der Steuerpflichtige auch über
eine entsprechende Rechnung verfügt. Mangels verfügbarer Rechnungen war die geltend
gemachte Vorsteuer somit nicht in den Streitjahren 1999 bis 2005 abziehbar.
51 bb) § 233a AO bezweckt, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern den einzelnen
Steuerpflichtigen gegenüber zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden.
Liquiditätsvorteile, die dem Steuerpflichtigen oder dem Fiskus aus dem verspäteten Erlass
(bzw. der Änderung) eines Steuerbescheids typischerweise entstanden sind, sollen mit Hilfe
der sog. Vollverzinsung ausgeglichen werden. Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich
gezogen worden sind, ist grundsätzlich unbeachtlich (BFH-Beschluss vom 10. März 2006
V B 82/05, BFH/NV 2006, 1433, m.w.N.). Die Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO ist
grundsätzlich rechtmäßig, wenn der Schuldner der Steuernachforderung Liquiditätsvorteile
gehabt hat, weil er von der Zahlung der geschuldeten Steuer vorerst --wegen unzutreffender
Steuerfestsetzung-- "freigestellt" war (BFH-Urteil vom 30. März 2006 V R 60/04, BFH/NV
2006, 1434).
52 Der ungleiche Lauf der Verzinsung entspricht nach ständiger Rechtsprechung der
Gesetzeskonzeption, die dem § 233a AO zugrunde liegt. Deren Korrektur unter dem
Gesichtspunkt einer sachlichen Härte kommt daher grundsätzlich nicht in Betracht.
53 d) Im Übrigen hätte die Klägerin eine abweichende Festsetzung der Nachzahlungszinsen
aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO im Klageverfahren gegen die Bescheide vom
13. September 2007, mit denen die Umsatzsteuer und Nachzahlungszinsen zur
Umsatzsteuer 1999 bis 2005 jeweils festgesetzt wurden, geltend machen können und
müssen.
54 4. Unionsrechtlichen Klärungsbedarf, der ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH
rechtfertigen könnte, sieht der Senat --im Gegensatz zur Klägerin-- im Streitfall nicht.