Urteil des BFH vom 30.04.2014

Kein Kindergeld für behindertes Kind in Haft

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 30.4.2014, XI R 24/13
Kein Kindergeld für behindertes Kind in Haft
Leitsätze
Die Behinderung eines Kindes ist für dessen Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht ursächlich,
wenn es sich in Untersuchungs- und anschließender Strafhaft befindet, selbst wenn die Straftat
durch die Behinderung gefördert wurde.
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater seines ... geborenen Sohnes S,
dessen Grad der Behinderung seit 2004 infolge einer psychischen Erkrankung ... beträgt.
2 S tötete vorsätzlich, jedoch im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit, eine Person. Das
Landgericht X verurteilte S, der noch am Tag der Tat festgenommen und in
Untersuchungshaft genommen worden war, wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe. S trat
die Haft an.
3 Der Kläger beantragte Kindergeld für S ab Januar 2004.
4 Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag des Klägers mit
Bescheid vom ... ab; den hiergegen eingelegten Einspruch des Klägers wies sie mit
Einspruchsentscheidung vom ... als unbegründet zurück.
5 Im Verlauf des anschließenden finanzgerichtlichen Verfahrens holte das Finanzgericht (FG)
ein fachpsychiatrisches Gutachten ein. Danach war S infolge seiner Behinderung seit 2004
außerstande, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
6 Die Familienkasse änderte hierauf mit Bescheid vom ... den angefochtenen
Ablehnungsbescheid vom ... in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... und setzte
nunmehr Kindergeld für S für den Zeitraum von Januar 2005 bis April 2007 fest.
7 Für die Monate Januar bis Dezember 2004 sowie Mai 2007 bis März 2009 trat die
Familienkasse der Klage weiterhin entgegen. Die Einnahmen und Bezüge des S für das
Jahr 2004 seien so hoch gewesen, dass er selbst für seinen Lebensunterhalt in der Zeit von
Januar 2004 bis Dezember 2004 habe aufkommen können. Für die Zeiträume ab Mai 2007
komme es nicht darauf an, ob S wegen seiner Behinderung außerstande gewesen sei, sich
selbst zu unterhalten, weil er sich ab ... in Haft befunden habe.
8 Die Beteiligten erklärten den Rechtsstreit hinsichtlich der Streitzeiträume Januar 2004 bis
April 2007 und in der mündlichen Verhandlung vor dem FG hinsichtlich Januar 2008 bis Juli
2008 übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt.
9 Die Klage hatte in dem noch streitigen Umfang Erfolg. Das FG entschied, dass S, für den vor
Vollendung des 25. Lebensjahrs ein Grad der Behinderung von ... festgestellt worden sei,
auch während seiner Inhaftierung in den Monaten ... bis ... und ... bis ... (Streitzeitraum)
infolge seiner Behinderung außerstande gewesen sei, selbst für seinen Lebensunterhalt i.S.
des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu sorgen.
10 Es führte zur Begründung im Wesentlichen aus, entgegen der herrschenden Auffassung,
wonach mit der Inhaftierung bzw. Unterbringung eines behinderten Kindes die Kausalität
zwischen dessen Behinderung und Unfähigkeit, für den eigenen Lebensunterhalt
aufzukommen, entfalle, seien auch insoweit die Gesamtumstände des Einzelfalles zu
würdigen.
11 Bei einer Tatbegehung durch ein behindertes Kind könnten Kriterien vorliegen, nach denen
(unmittelbar) die Behinderung Grund für die Verfehlung gewesen sei und diese damit
(mittelbar) erheblich zu der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt beitrage, weil das Kind infolge
der anschließenden strafrechtlichen Inhaftierung bzw. Unterbringung nicht erwerbstätig sein
könne.
12 Im Streitfall sei die Behinderung des S erhebliche Mitursache für seine Tat gewesen, sodass
auch die anschließende Inhaftierung erheblich durch die Behinderung verursacht worden
sei.
13 Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen
Rechts.
14 Sie bringt vor, an einer (Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung für eine Unfähigkeit des Kindes
zum Selbstunterhalt i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG fehle es, wenn das behinderte
Kind aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung untergebracht sei, weil es schon deswegen
keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könne. Insofern stehe ein behindertes Kind während
seiner Inhaftierung einem nicht behinderten inhaftierten Kind gleich. Aus diesem Grund
komme für das behinderte Kind während seiner Inhaftierung ebenfalls kein
Kindergeldanspruch in Betracht.
15 Unerheblich sei, ob die Behinderung mitursächlich für die begangene Straftat sei. Der
Umstand, dass die Begehung der Straftat, die zur Inhaftierung des Kindes geführt habe, ggf.
durch eine psychische Behinderung gefördert worden sei, könne keine Kausalität i.S. des
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG begründen.
16 Die Familienkasse beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
17 Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
18 Er tritt der Revision entgegen. Die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG durch die
Familienkasse dahingehend, dass die Gewährung von Kindergeld für ein behindertes,
inhaftiertes und wegen seiner Behinderung zum Selbstunterhalt unfähiges Kind
grundsätzlich ausgeschlossen sei, sei nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht möglich.
19 Eine Behinderung sei auch dann kausal für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt i.S. des § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, wenn sie --wovon das FG zu Recht ausgegangen sei-- nicht nur
ursächlich für die fehlende Erwerbstätigkeit an sich, sondern auch mitursächlich für die
Inhaftierung des behinderten Kindes gewesen sei.
20 Die vom FG vorgenommene Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG werde auch durch
die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Berücksichtigung eines Kindes, das
seine Berufsausbildung aufgrund einer Inhaftierung habe unterbrechen müssen, gestützt.
Denn nach dem BFH-Urteil vom 20. Juli 2006 III R 69/04 (BFH/NV 2006, 2067) sei ein Kind
weiterhin als in Ausbildung befindlich i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG zu
behandeln, wenn es in Untersuchungshaft genommen werde oder wegen eines laufenden
Strafverfahrens im Ausland nicht ausreisen dürfe und deshalb eine begonnene Ausbildung
nicht fortsetzen könne.
Entscheidungsgründe
21 II. Im Streitfall hat zum 1. Mai 2013 ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel stattgefunden;
Beklagte und Revisionsklägerin ist nunmehr die Familienkasse ... (vgl. z.B. BFH-Urteile vom
16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, Rz 11; vom 28. Mai 2013
XI R 38/11, BFH/NV 2013, 1774, Rz 14). Das Rubrum des Verfahrens ist deshalb zu ändern.
III.
22 Auf die Revision der Familienkasse hin war die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage
hinsichtlich des noch streitigen Zeitraums abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
23 Der Kläger hat --entgegen der Auffassung des FG-- keinen Anspruch auf Kindergeld für die
noch streitigen Monate, in denen S inhaftiert war.
24 1. Ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, besteht
unter den weiteren --hier nicht streitigen-- Voraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63
Abs. 1 Satz 1 EStG u.a., wenn --was vorliegend allein in Frage kommt-- dieses wegen
körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahrs --bei Eintritt der
Behinderung vor dem 1. Januar 2007 des 27. Lebensjahrs (§ 52 Abs. 40 Satz 8 EStG)--
eingetreten ist (§ 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG).
25 a) Für den ... geborenen S wurde --was durch die Vorlage des Schwerbehindertenausweises
nachgewiesen und im Übrigen zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist-- ab 2004, mithin
vor Vollendung dessen 25. Lebensjahrs, infolge einer psychischen Erkrankung ein Grad der
Behinderung von ... festgestellt.
26 b) § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt indes nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich,
geistig oder seelisch behindert ist. Vielmehr muss es "wegen" seiner Behinderung
außerstande sein, sich selbst zu unterhalten.
27 aa) Ein behindertes Kind ist imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten existenziellen
Lebensbedarfs ausreicht (vgl. dazu z.B. BFH-Urteile vom 4. November 2003 VIII R 43/02,
BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II.1.c; vom 23. Februar 2012 V R 39/11, BFH/NV
2012, 1584, Rz 16; vom 8. August 2013 III R 30/12, BFH/NV 2014, 498, Rz 15). Hieran fehlt
es, soweit die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind keine
anderen Einkünfte und Bezüge hat (vgl. dazu BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98,
BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75, unter II.1.b).
28 bb) Nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG muss ein kindergeldrechtlich zu
berücksichtigendes Kind "wegen" seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu
unterhalten; die Behinderung muss somit ursächlich für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt
sein (vgl. dazu auch FG Nürnberg, Urteil vom 17. Januar 2008 IV 352/2005, nicht
veröffentlicht --n.v.--, juris; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12. Januar 2010 6 K 2465/08,
EFG 2010, 658).
29 cc) Soweit der Kläger hiergegen vorbringt, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG könne nach seinem
Wortlaut nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die Inhaftierung eines behinderten
Kindes, das wegen seiner Behinderung zum Selbstunterhalt unfähig sei, die
Kindergeldgewährung grundsätzlich ausschließe, vermag der Senat dem nicht zu folgen.
30 Wenn ein Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG kindergeldrechtlich (dann) zu
berücksichtigen ist, wenn es "wegen" seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten, stehen weder Wortlaut noch Wortsinn dieser Vorschrift dem entgegen, dass ein
behindertes Kind keine Berücksichtigung findet, weil es schon aufgrund seiner Inhaftierung
zum Selbstunterhalt unfähig ist.
31 dd) Für behinderte Kinder, die aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung untergebracht
sind, besteht kein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG (vgl. dazu
BFH-Beschlüsse vom 25. Februar 2009 III B 47/08, BFH/NV 2009, 929; vom 8. November
2012 VI B 86/12, BFH/NV 2013, 371; ferner Senatsurteil vom 23. Januar 2013 XI R 50/10,
BFHE 240, 300, BStBl II 2013, 916, Rz 19).
32 (1) Denn in diesen Fällen ist --entgegen der Auffassung der Vorinstanz-- die Ursächlichkeit
der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt zu verneinen (vgl. dazu BFH-
Beschlüsse in BFH/NV 2009, 929; in BFH/NV 2013, 371). Treten --wie hier mit der
Inhaftierung-- andere, die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt insoweit
überholende Ursachen hinzu, ist Kindergeld selbst dann zu versagen, wenn die Begehung
der zur Inhaftierung führenden Straftat behinderungsbedingt ist (vgl. dazu auch FG
Rheinland-Pfalz in EFG 2010, 658; Niedersächsisches FG, Beschluss vom 28. November
2012 2 K 240/12, EFG 2013, 787). Während der Haft ist ein Kind unabhängig davon, ob es
behindert ist oder nicht, grundsätzlich außerstande einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (vgl.
dazu FG Nürnberg, Urteil vom 17. Januar 2008 IV 352/2005, n.v., juris). In diesen Fällen
steht --worauf die Familienkasse zu Recht hinweist-- nicht die Behinderung eines Kindes der
Ausübung einer Erwerbstätigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts entgegen, sondern
die Inhaftierung.
33 (2) Die Inhaftierung begründet ebenso wie eine allgemeine Situation auf dem Arbeitsmarkt
oder andere Umstände, wie z.B. mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung oder
Ablehnung von Stellenangeboten, die zur Arbeitslosigkeit des behinderten Kindes und damit
zu dessen Unfähigkeit zum Selbstunterhalt führen (vgl. dazu z.B. BFH-Urteile vom
19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.1.a; vom
15. März 2012 III R 29/09, BFHE 237, 68, BStBl II 2012, 892, Rz 13; Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen vom 22. November 2010 IV C 4-S 2282/07/0006-01,
2010/0912635, BStBl I 2010, 1346), keine Berücksichtigung als Kind nach § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 EStG.
34 ee) Aus dem Einwand des Klägers, die vom FG getroffene Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 3 EStG stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des BFH, wonach ein in
Untersuchungshaft genommenes Kind ausnahmsweise weiterhin als in Ausbildung
befindlich zu behandeln ist, wenn es die begonnene Ausbildung in der Haft nicht fortsetzt
(vgl. dazu BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 2067; ferner Senatsurteil in BFHE 240, 300, BStBl II
2013, 916), folgt nichts anderes. Denn diese Rechtsprechung betrifft andere Sachverhalte.
35 (1) Der BFH hatte in seinem in BFH/NV 2006, 2067 zu entscheidenden Fall maßgeblich
darauf abgestellt, dass das seinerzeit in Polen inhaftierte Kind die Unterbrechung seiner
Ausbildung nicht zu vertreten hatte, weil es letztlich vom Tatvorwurf freigesprochen worden
war (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 2067, unter II.1.c).
36 (2) Im Streitfall hat S mit der Tötung einer Person dagegen eine Straftat begangen, für die er
rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Ein derartiger Sachverhalt ist
unabhängig von der subjektiven Sicht des Kindes und dessen Schuldfähigkeit von
vornherein nicht vergleichbar mit dem Fall, über den der BFH in BFH/NV 2006, 2067
befunden hat (vgl. dazu Senatsurteil in BFHE 240, 300, BStBl II 2013, 916, Rz 18, m.w.N.).
37 2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1, § 143 Abs. 1 FGO.
38 Da die Revision der Familienkasse Erfolg hat, kann auch die Kostenentscheidung des FG
keinen Bestand haben. Der Senat hält es für angemessen, über die Kosten nach
Verfahrensabschnitten zu entscheiden. Auch eine solche Entscheidung wahrt den Grundsatz
der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung (vgl. dazu BFH-Urteile vom 30. April 2003
II R 6/01, BFH/NV 2004, 341; vom 6. Juli 1999 VIII R 17/97, BFHE 189, 302, BStBl II 2000,
306; vom 10. Dezember 2009 V R 13/08, BFH/NV 2010, 960; vom 4. August 2011 III R 71/10,
BFHE 235, 203, BStBl II 2013, 380; vom 24. Juli 2013 XI R 24/12, BFH/NV 2013, 1920).