Urteil des BAG vom 11.12.2013

Tariflicher Nachtarbeitszuschlag - Gleichheitssatz - Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 11.12.2013, 10 AZR 736/12
Tariflicher Nachtarbeitszuschlag - Gleichheitssatz - Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit
Leitsätze
§ 8 Ziff. 5 Buchst. a MTV, wonach für Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 %, jedoch für Nachtarbeit
im Rahmen von Schichtarbeit nur ein Zuschlag von 20 % zu gewähren ist, verstößt unter den
besonderen branchentypischen Bedingungen des Einzelhandels nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Juni 2012 -
16 Sa 297/12 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Höhe des tariflichen Nachtzuschlags für die Zeiträume
November 2009 bis Februar 2010 und November 2010 bis Oktober 2011.
2 Der Kläger war zunächst seit dem 1. September 2001 bei der T Dienstleistungsgesellschaft
mbH beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis ging mit Wirkung zum 1. Januar 2008 auf die
Beklagte über. Die Beklagte erbringt logistische Dienstleistungen im Zusammenhang mit
der Versorgung von Einzelhandelsfilialen mit Waren. Kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme
finden die Tarifverträge für den Berliner Einzelhandel Anwendung.
3 § 8 des Manteltarifvertrags für den Berliner Einzelhandel vom 6. Juli 1994 (MTV) idF der
7. Änderungsvereinbarung vom 4. September 2008, gültig ab 1. Januar 2007, und idF des
Ergänzungstarifvertrags vom 20. Juli 2011, in Kraft ab 1. Juli 2011, lautet wie folgt:
„Nacht-, Sonn-, Feiertags- und Spätöffnungsarbeit
1. Nachtarbeit ist die in der Nachtzeit
zwischen 20:00 Uhr und 06:00 Uhr geleistete
Arbeit. Für das Zuendebedienen und andere
Tagesabschlussarbeiten aus Anlass der
Spätöffnung beginnt die Nachtarbeit montags
bis samstags ab 20:10 Uhr. *)
2. Sonntagsarbeit ...
3. Feiertagsarbeit ...
4. Spätöffnungsarbeit (siehe § 6 Ziff. 3b und
Ziffer 5) ist die Arbeit, die von Montag bis
Freitag in der Zeit von 18:30 Uhr bis 20:00 Uhr
und an Samstagen in der Zeit ab 15:00 Uhr an
geleistet wird (Fassung gültig bis 30.06.2008).
Fassung gültig ab 01.07.2008:
Spätöffnungsarbeit (siehe § 6 Ziff. 3b und 5) ist
die Arbeit, die von Montag bis Samstag in der
Zeit von 18:30 Uhr bis 20:00 Uhr geleistet
wird.
5. Für Arbeit nach Ziff. 1 - 4 sind zum Entgelt
folgende Zuschläge zu gewähren:
a) Nachtarbeit
50 %
jedoch im
Rahmen
von
Schichtarbeit
20 %
b) Sonntagsarbeit 120 %
c) Feiertagsarbeit 150 %
d) Spätöffnung
20 % Zeitgutschrift
(Ziffer 6 ist zu
beachten)
6. Beschäftigte, die während der Spätöffnung
eingesetzt werden, erhalten für diese Zeit eine
Zeitgutschrift in Höhe von 20 %, die
grundsätzlich in Form von Freizeit zu
gewähren ist. Bestehende Zeitguthaben
können in Ausnahmefällen einvernehmlich in
Geld abgegolten werden.
Ausgenommen von Zeitgutschriften gem.
Ziff. 5d) sind die vier Samstage vor
Weihnachten.
7. Für berufsübliche Nacht-, Sonn- und
Feiertagsarbeit (z. B. Nachtwächter/innen,
Pförtner/innen, Monteure/innen in
Notdienstbetrieben) ist kein Zuschlag zu
zahlen.
Diese Arbeitnehmer/innen erhalten in jeder
Woche (7 Tage) in der Regel zwei freie Tage.
Die Verteilung der freien Tage hat so zu
erfolgen, dass mindestens zwei freie Tage im
Monat auf einen Sonntag oder gesetzlichen
Feiertag fallen.
8. Auf Wunsch oder mit Zustimmung des/der
Arbeitnehmers/in soll eine Abgeltung der
geleisteten Mehr-, Nacht-, Sonn- und
Feiertagsarbeit, einschließlich der Zuschläge,
durch Freizeit innerhalb der auf die
Mehrarbeitsleistung folgenden zwei Wochen
gewährt werden. Im Monat Dezember erfolgte
Mehrarbeitsleistungen können bis Ende
Januar abgegolten werden.
9. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge
wird nur der jeweils höhere Zuschlag gewährt.
10. Arbeitszeit- und Zuschlagsregelungen
jeder Art im Arbeitsgesetzbuch und in den
Tarifverträgen, die vor dem 30. Juni 1990
abgeschlossen wurden, werden durch die
vorstehenden Regelungen der §§ 6 bis 8
ersetzt und finden keine Anwendung mehr.
_______
*) § 6 Ziff. 3b ist zu beachten“
4 Der Kläger wurde im Logistikzentrum Pankow im wöchentlichen Wechsel in der Früh- und
Spätschicht eingesetzt. Grundsätzlich begann die Frühschicht um 06:00 Uhr und endete um
14:45 Uhr. Die Spätschicht begann grundsätzlich um 14:45 Uhr und endete um 23:30 Uhr.
Bisweilen gab es gegenüber dem Schichtsystem einen abweichenden früheren Beginn
bzw. ein späteres Ende der Arbeitszeit. Soweit der Kläger während der Schichten
Nachtarbeit iSd. MTV leistete, zahlte ihm die Beklagte einen Zuschlag in Höhe von 20 %
gemäß § 8 Ziff. 5 Buchst. a Alt. 2 MTV.
5 Der Kläger hat die Auffassung vertreten, auch die Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit
sei mit einem tariflichen Zuschlag von 50 % zu vergüten. Insbesondere unter dem
Gesichtspunkt der Gleichbehandlung sei es unverständlich, bei der Doppelbelastung durch
Nacht- und Schichtarbeit einen geringeren Zuschlag zu gewähren. Es liege ein Verstoß
gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG vor. Fielen zwei Erschwernisse
zusammen, könne dies nicht dazu führen, dass sich der Zuschlag, der zumindest für eine
Erschwernis gezahlt werde, vermindere. Dies sei mit dem Gerechtigkeitsgedanken
schlechthin nicht zu vereinbaren. Vielmehr liege darin eine deutliche Benachteiligung
derjenigen Arbeitnehmer, die neben der Erschwernis der regelmäßigen oder auch nur
gelegentlichen Nachtarbeit zusätzlich der Erschwernis der Wechselschichtarbeit ausgesetzt
seien. Ein sachlicher Grund hierfür bestehe nicht. Die von der tariflichen Regelung in
unzulässiger Weise ausgeklammerten Personen hätten deshalb einen Anspruch auf die
Vergünstigung, die bestehen würde, wenn der Normgeber dem Gleichheitssatz Rechnung
getragen hätte.
6 Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.218,35 Euro brutto
nebst Zinsen in gestaffelter Höhe zu zahlen.
7 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, es bestehe
kein Anspruch auf einen Nachtzuschlag von 50 %. Der Kläger leiste Nachtarbeit in
Schichtarbeit, wofür § 8 MTV nur einen Zuschlag von 20 % vorsehe. Gegen den
Gleichheitssatz werde nicht verstoßen, die Differenzierung halte sich in dem durch die
Tarifautonomie eingeräumten Wertungs- und Gestaltungsspielraum. Die
Tarifvertragsparteien hätten im Sinne einer typisierenden Betrachtung annehmen dürfen,
dass die übergroße Mehrheit der Einzelhandelsbeschäftigten, die in Schichten arbeiten,
keine reine Nachtarbeit abzuleisten haben und die im Einzelhandel vorherrschenden Früh-
und Spätschichten für den einzelnen Mitarbeiter in medizinischer Hinsicht weniger
belastend seien und zu erheblich weniger sozialen Einschränkungen führten als bei reiner
Nachtarbeit. Im Übrigen werde die Schichtarbeit überwiegend tagsüber geleistet und reiche
nur teilweise in die Nachtzeit im tariflichen Sinne hinein.
8 Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der vom
Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag in dem
vollen Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
9 I. Die zulässige Revision ist unbegründet. Dem Kläger stehen für die
streitgegenständlichen Zeiträume keine weiter gehenden Nachtzuschläge zu. Ein Verstoß
gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor.
10 1. Der Kläger macht keinen Anspruch aus § 6 Abs. 5 ArbZG geltend (vgl. dazu zB BAG
12. Dezember 2012 - 10 AZR 192/11 -; 18. Mai 2011 - 10 AZR 369/10 -). Der Kläger ist
auch kein Nachtarbeitnehmer iSd. Arbeitszeitgesetzes (§ 2 Abs. 5 ArbZG). Nachtzeit ist
nach § 2 Abs. 3 ArbZG die Zeit von 23:00 Uhr bis 06:00 Uhr; Nachtarbeit liegt nur vor,
wenn die Arbeit mehr als zwei Stunden der Nachtzeit umfasst (§ 2 Abs. 4 ArbZG). Dies
war nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts in den vom Kläger abgeleisteten
Schichten nicht der Fall. Dies gilt selbst dann, wenn er gelegentlich einen früheren
Arbeitsbeginn oder ein späteres Arbeitsende hatte, da er weder normalerweise
Nachtarbeit in Wechselschicht noch an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leistet (§ 2
Abs. 5 ArbZG).
11 2. Nach § 8 Ziff. 5 Buchst. a MTV steht ihm für die geleisteten Nachtarbeitsstunden ein
Zuschlag von (nur) 20 % zu. Diesen Zuschlag hat die Beklagte geleistet.
12 Der Kläger hat zwar in den Zeiten ab 20:00 Uhr bzw. vor 06:00 Uhr Nachtarbeit im
tariflichen Sinn geleistet, aber dies ist im Rahmen von Schichtarbeit erfolgt (vgl. zum
Begriff der Schichtarbeit: zuletzt BAG 12. Dezember 2012 - 10 AZR 354/11 - Rn. 10). Der
Kläger war nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts in Wechselschicht tätig,
wobei sich Früh- und Spätschicht wochenweise abgewechselt haben. In diesem Fall steht
ihm für geleistete Nachtarbeitsstunden gemäß § 8 Ziff. 5 Buchst. a MTV nur ein Zuschlag
von 20 %, nicht aber von 50 % zu. Der Kläger hat auch nicht mehr an der in den
Vorinstanzen vertretenen Auffassung festgehalten, § 8 Ziff. 5 Buchst. a MTV sei so
auszulegen, dass im Fall von Nachtarbeit während einer Schicht immer mindestens ein
Zuschlag von 50 % gezahlt werden müsse. Eine solche Auslegung wäre auch weder mit
dem Wortlaut noch mit der Systematik der Tarifregelung vereinbar.
13 3. In der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen Differenzierung zwischen
Nachtarbeit im Allgemeinen und Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit, die zu einem
geringeren Zuschlag führt, liegt unter den branchentypischen Bedingungen im
Geltungsbereich der Tarifverträge des Einzelhandels kein Verstoß gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
14 a) Es kann dahinstehen, ob die Tarifvertragsparteien als Normgeber bei der tariflichen
Normsetzung unmittelbar grundrechtsgebunden sind. Aufgrund der Schutzpflichten der
Grundrechte haben sie aber den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG
sowie die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten (BAG
27. Mai 2004 - 6 AZR 129/03 - BAGE 111, 8; 30. Oktober 2008 - 6 AZR 712/07 - Rn. 14,
BAGE 128, 219; zuletzt zB 23. März 2011 - 10 AZR 701/09 - Rn. 21). Die durch Art. 9
Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie gewährt ihnen einen weiten Gestaltungsspielraum.
Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen
Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu (BAG 24. Februar 2010 - 10 AZR 1038/08 -
Rn. 21). Sie sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder
gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich
vertretbarer Grund vorliegt (BAG 27. Oktober 2010 - 10 AZR 410/09 - Rn. 22; 30. Oktober
2008 - 6 AZR 712/07 - Rn. 15, aaO; 25. Oktober 2007 - 6 AZR 95/07 - Rn. 24, BAGE 124,
284). Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist erst dann anzunehmen, wenn die
Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder
Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam
sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten
beachtet werden müssen (BAG 23. März 2011 - 10 AZR 701/09 - Rn. 21 mwN).
15 Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes ist
dabei nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen
Auswirkungen der Regelung (BAG 19. Juli 2011 - 3 AZR 398/09 - Rn. 25 mwN, BAGE
138, 332).
16 b) Ausgehend von diesen Grundsätzen überschreitet die von den Tarifvertragsparteien
vorgenommene Differenzierung deren Einschätzungsprärogative im Hinblick auf die
branchentypischen Bedingungen nicht.
17 aa) Nach § 8 Ziff. 1 MTV ist Nachtarbeit im Tarifsinn die in der Zeit zwischen 20:00 Uhr
und 06:00 Uhr geleistete Arbeit; bei Zuendebedienen und ähnlichen
Tagesabschlussarbeiten beginnt die Nachtzeit ab 20:10 Uhr. Nach der tariflichen
Regelung beginnt damit die Nachtzeit drei Stunden früher als nach den
arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen des ArbZG. Gleichzeitig gewährt § 8 Ziff. 5 MTV
bereits ab der ersten Stunde der Nachtarbeit grundsätzlich einen Ausgleich in Form eines
50%igen Zuschlags zum Entgelt, wobei nach § 8 Ziff. 8 MTV die - unter
Arbeitsschutzgesichtspunkten vorzugswürdige - Möglichkeit des Freizeitausgleichs
besteht. Wird die Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit geleistet, beträgt der Zuschlag
hingegen lediglich 20 %. Insoweit behandeln die Tarifvertragsparteien Arbeitnehmer, die
Nachtarbeit im tariflichen und/oder gesetzlichen Sinne leisten, differenziert danach, in
welchem Kontext die Nachtarbeit geleistet wird. Während Nachtarbeit im Rahmen von
Schichtarbeit lediglich mit 20 % zusätzlich vergütet wird, besteht sowohl bei gelegentlich
anfallender Nachtarbeit, ohne dass dies in einem bestimmten Schichtplan vorgesehen ist,
als auch im Fall dauerhafter Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen ein
Zuschlagsanspruch in Höhe von 50 %. Keinen Zuschlag erhalten nach § 8 Ziff. 7 MTV
Arbeitnehmer/innen, bei denen die Nachtarbeit berufsüblich ist. Nicht unterschieden wird
nach dem Tarifvertrag zwischen den Stunden, die lediglich tariflich als Nachtarbeit gelten
und den Nachtarbeitsstunden iSd. ArbZG. Ebenso wenig setzt der Anspruch auf die
entsprechenden Nachtzuschläge voraus, dass es sich beim Arbeitnehmer um einen
Nachtarbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 5 ArbZG handelt.
18 bb) Die Annahme der Tarifvertragsparteien, dass für die Differenzierung zwischen
Nachtarbeit innerhalb und außerhalb von Schichtarbeit im Geltungsbereich der
Tarifverträge des Einzelhandels ein sachlicher Grund besteht, überschreitet deren
Spielraum nicht. Insbesondere haben sie dabei keine gesicherten
arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit
(§ 6 Abs. 1 ArbZG; vgl. zum Begriff ErfK/Wank 14. Aufl. § 6 ArbZG Rn. 4) verkannt.
19 (1) Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und hat negative
gesundheitliche Auswirkungen (vgl. dazu BVerfG 28. Januar 1992 - 1 BvR 1025/82, 1 BvL
16/83, 1 BvL 10/91 - zu C I 2 der Gründe, BVerfGE 85, 191; Neumann/Biebl ArbZG
16. Aufl. § 6 Rn. 4). Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach
bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat
und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird, wie sich
ua. aus einer Expertise der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin vom
24. Februar 2012 ergibt. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in
umso größerem Umfang sie geleistet wird. Entsprechende Gestaltungsempfehlungen für
Arbeitszeitmodelle setzen hier an (vgl. dazu zB Schliemann ArbZG 2. Aufl. § 6 Rn. 14).
Dies gilt unabhängig davon, dass typabhängig die Anpassung an Nachtarbeit von Mensch
zu Mensch unterschiedlich gut erfolgt (P. Knauth in Triebig/Kentner/Schiele
Arbeitsmedizin 3. Aufl. S. 554 ff.; vgl. insgesamt dazu Habich Sicherheits- und
Gesundheitsschutz durch die Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit und die Rolle des
Betriebsrates, Diss. 2004 S. 3 ff., Gestaltungsempfehlungen S. 184 ff.).
20 Für Schichtarbeit gilt das nicht gleichermaßen; insbesondere bringen normale
Schichtwechsel zwischen Früh- und Spätschicht nicht dieselben Gefahren mit sich wie der
Wechsel zu und von Nachtarbeit (Neumann/Biebl ArbZG § 6 Rn. 5; kritisch Habich aaO
S. 16 mwN auch zur gegenteiligen Auffassung). Davon geht auch das ArbZG aus, das die
Nachtzeit erst ab 23:00 Uhr und damit nach dem üblichen Ende der Arbeit in 2-Schicht-
Systemen beginnen lässt.
21 (2) Nach dem unwidersprochenen Vortrag der Beklagten leistet die übergroße Mehrheit
der im Einzelhandel Beschäftigten (einschließlich des Logistikbereichs) keine reinen
Nachtschichten, auch wenn sie im Schichtdienst arbeiten. Dies erklärt sich im Verkauf
schon aus den typischen Ladenöffnungszeiten, die weit überwiegend nicht in der
Nachtzeit liegen. Auch für die anderen Bereiche, die unter die Geltung der Tarifverträge
des Einzelhandels fallen, ist weder erkennbar noch vom Kläger dargelegt, dass
typischerweise Nachtarbeiten in größerem Umfang oder gar ausschließlich geleistet
werden. Dies ist nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im Unternehmen der
Beklagten ebenso nicht der Fall.
22 Vor diesem Hintergrund durften die Tarifvertragsparteien berücksichtigen, dass sich
Arbeitnehmer, die nach einem Schichtplan tätig sind, auf diesen einstellen können. Damit
werden die sozialen Folgen („soziale Desynchronisation“, vgl. die genannte Expertise der
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin), die mit jeder Arbeit außerhalb der
üblichen Arbeitszeiten der Mehrheit der Arbeitnehmer und damit außerhalb des üblichen
Tagesablaufs verbunden sind, gemindert (kritisch hierzu Wolfhard Kothe FS Buschmann
S. 76 ff.). Gleichzeitig reduziert und begrenzt der Einsatz in Wechselschichtsystemen die
Anzahl ggf. anfallender Nachtschichten oder Arbeitsstunden in der tariflichen oder
gesetzlichen Nachtzeit.
23 Deshalb überschreitet die Annahme, dass derjenige Arbeitnehmer, der keiner solchen
Regelmäßigkeit unterliegt, durch die Heranziehung zur Nachtarbeit höher belastet wird,
den Spielraum der Tarifvertragsparteien nicht. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang
zu beachten, dass eine unregelmäßige und ungeplante Heranziehung in sehr viel
höherem Maße in das Familienleben und Freizeitverhalten des Betroffenen eingreift.
24 (3) Soweit der Senat in seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2003 (- 10 AZR 3/03 -
zu II 1 b der Gründe) nicht tragend eine Regelung des ab 1. Januar 2000 geltenden
Manteltarifvertrags des bayerischen Einzelhandels (MTV Bayern) unter dem
Gesichtspunkt von Art. 3 Abs. 1 GG als problematisch angesehen hatte, führt dies zu
keinem anderen Ergebnis. Die Besonderheit der dortigen Tarifregelung lag darin, dass
sich der Zuschlag nach dem Verständnis des Senats auch beim Zusammentreffen von
Wechselschichtarbeit und gelegentlicher Nachtarbeit vermindert hätte und im Übrigen
dieser Zuschlag noch geringer war als ein „spätöffnungsbedingter“ Zuschlag für die Zeit ab
18:30 Uhr bzw. samstags ab 14:00 Uhr. Der Senat hat deshalb angenommen, § 8 Ziff. 6
MTV Bayern regle Fälle, „in denen die Erschwernisse der Wechselschicht mit Nachtarbeit
gerade wegen der Erschwernis der Wechselschicht mit einem Zuschlag ausgeglichen
werden sollen, nicht dagegen die bloße Erschwernis der Nachtarbeit“. Er hat daraus die
Schlussfolgerung gezogen, die Zuschläge für Nacht- und Wechselschichtarbeit stünden
grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander und eine automatische Verdrängung finde
nicht statt. Die Ausgangssituation unterscheidet sich damit deutlich von der vorliegenden
Tariflage.
25 II. Der Kläger hat die Kosten der Revision gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
Mikosch
W. Reinfelder
Mestwerdt
Frese
Großmann