Urteil des BAG vom 09.08.2011

Urlaubsabgeltungsanspruch - Verfall nach § 45 Abs 2 der Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland

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BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZR 475/10
7 Sa 1571/09
Landesarbeitsgericht
Düsseldorf
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
9. August 2011
URTEIL
Jatz, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Beklagter, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
9. August 2011 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Düwell, die Richter am Bundesarbeitsgericht Krasshöfer und Dr. Suckow
sowie die ehrenamtlichen Richter Schmid und Müller beschlossen:
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Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts Düsseldorf vom 5. Mai 2010 - 7 Sa
1571/09 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu
tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger begehrt von dem Beklagten, Erholungsurlaub aus den Jah-
ren 2002 bis 2007 abzugelten.
Die Parteien verband im Zeitraum vom 21. April 1989 bis zum 31. März
2007 ein Arbeitsverhältnis. Der Beklagte, ein gemeinnütziger Verein in kirchli-
cher Trägerschaft, beschäftigte den Kläger als Altenpfleger in Teilzeit. Der
jährliche Urlaubsanspruch des Klägers betrug 34 Arbeitstage.
Gemäß § 2 des die Parteien verbindenden Formulararbeitsvertrags
fanden auf das Arbeitsverhältnis die Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen
Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland in der jeweils gültigen
FassungAnwendung. Diese sehen auszugsweise ua. folgende Bestimmungen
vor:
„§ 35 Beendigung des Dienstverhältnisses wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit
(1) Die Mitarbeiterin bzw. der Mitarbeiter hat … den
Dienstgeber unverzüglich von der Zustellung des Renten-
bescheides zu unterrichten.
Das Dienstverhältnis endet, wenn der Rentenbescheid
eines Rentenversicherungsträgers die volle Erwerbsmin-
Setzt der Rentenbescheid eine befristete Rente fest, ruht
das Dienstverhältnis solange wie ... der Mitarbeiter die
befristete Rente bezieht, längstens jedoch bis zum Ablauf
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...
§ 45 Ausschlussfristen
(1) ... die allmonatlich entstehenden Ansprüche auf Entgelt
(§§ 14 bis 19a) müssen innerhalb einer Ausschlussfrist
von zwölf Monaten nach Fälligkeit geltend gemacht
werden.
(2) Andere Ansprüche aus dem Dienstverhältnis müssen
innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach
Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden, soweit die
AVR nichts anderes bestimmen.
(3) Für den gleichen Tatbestand reicht die einmalige
Geltendmachung der Ansprüche aus, um die Ausschluss-
frist auch für später fällig werdende Ansprüche unwirksam
zu machen.“
Ab dem 20. Juni 2003 bezog der Kläger eine befristete Rente wegen
Erwerbsminderung.
In einem im Jahr 2004 vor dem Arbeitsgericht Wuppertal geführten
Rechtsstreit schlossen die Parteien unter dem 16. September
2004 einen Vergleich. Ziffer 1 dieses Vergleichs lautet wie folgt:
„Es besteht Einigkeit zwischen den Parteien, dass dem
Kläger zum 01.06.2005 noch 43 Urlaubstage aus dem
Jahr 2002 und anteilig aus dem Jahr 2003 zustehen.“
Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass sie nicht das Datum
„01.06.2005“, sondern den 1. Juni 2004 meinten.
Mit Bescheid vom 22. März 2007, der dem Kläger im Laufe desselben
Monats zugestellt wurde, erkannte die Deutsche Rentenversicherung Rheinland
dem Kläger eine unbefristete Rente wegen Erwerbsminderung zu.
Mit Schreiben vom 5. Februar 2009 begehrte der Kläger ohne Erfolg
von dem Beklagten, seinen Urlaub abzugelten.
Der Kläger hat die Rechtsauffassung vertreten, der Beklagte sei zur Ur-
laubsabgeltung verpflichtet. Er hat behauptet, während des Zeitraums, in dem
er eine Rente wegen Erwerbsminderung bezogen habe, sei er durchgehend
arbeitsunfähig krank gewesen. Die Ausschlussfrist des § 45 AVR stehe dem
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erhobenen Anspruch nicht entgegen, da die AVR nicht die Qualität eines
Tarifvertrags hätten. Durch die einmalige Geltendmachung von Urlaubsansprü-
chen in dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Wuppertal
habe er den Anforderungen des § 45 Abs. 3 AVR genügt.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 11.015,82 Euro
brutto nebst fünf „Prozent“ Zinsen über dem Basiszins-
satz seit dem 9. März 2009 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er ist der Ansicht,
der Kläger habe während des Zeitraums, in dem das Arbeitsverhältnis geruht
habe, keinen Urlaubsanspruch erworben. Der vom 16. September 2004 datie-
rende Vergleich gewähre dem Kläger lediglich Rechte in Bezug auf Urlaub,
nicht jedoch Ansprüche auf die Abgeltung von Urlaub. Die in § 45 AVR geregel-
ten Ausschlussfristen seien auf die von dem Kläger erhobenen Urlaubsansprü-
che anzuwenden, da kirchenrechtliche Regelungen Tarifverträgen gleichstän-
den. Spätestens seit Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens des
Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 2. August 2006 habe es dem Kläger
oblegen, Urlaubsansprüche zur Wahrung der Ausschlussfrist geltend zu ma-
chen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision ver-
folgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Die Revision ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die
Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu
Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Beklagte
ist nicht verpflichtet, an den Kläger einen Bruttobetrag iHv. 11.015,82 Euro
nebst Zinsen seit dem 9. März 2009 zu zahlen. Der von dem Kläger erhobene
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Anspruch auf Urlaubsabgeltung ist verfallen. Dem Kläger steht deshalb auch
kein Zinsanspruch zu.
1.
Gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG hat der Arbeitgeber Urlaub abzugelten, wenn
dieser wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise
nicht mehr gewährt werden kann.
2.
Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete am 31. März 2007, da die
Deutsche Rentenversicherung Rheinland dem Kläger mit Bescheid vom
22. März 2007, der dem Kläger im Monat März 2007 zugestellt wurde, eine
Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährte
. § 35 Abs. 1 Unterabs. 2 AVR enthält eine den
Arbeitsvertrag beendende auflösende Bedingung. Der Kläger hat etwaige
Unwirksamkeitsgründe nicht binnen der in §§ 21, 17 Satz 1 TzBfG bestimmten
Frist geltend gemacht.
3.
Der Senat braucht nicht darüber zu befinden, ob und gegebenenfalls in
welchem Umfang dem Kläger zum Beendigungszeitpunkt Urlaubsansprüche
zustanden. Insbesondere kann dahinstehen, ob der Kläger für den Zeitraum
zwischen dem 20. Juni 2003 und dem 31. März 2007, in dem das Arbeitsver-
hältnis der Parteien wegen der seitens des Klägers bezogenen befristeten
Rente wegen Erwerbsminderung ruhte , Ur-
laubsansprüche erworben hat. Denn selbst wenn der Senat zugunsten des
Klägers unterstellt, dass er zum Zeitpunkt der Beendigung Inhaber von Ur-
laubsansprüchen war, ist der Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs gemäß § 45
Abs. 2 AVR verfallen.
a)
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fanden kraft einzelvertraglicher
Vereinbarung die Regelungen der AVR Anwendung .
aa)
Die Vertragsklausel des § 2 des Arbeitsvertrags, die auf die AVR in der
jeweils gültigen Fassung Bezug nimmt, ist Bestandteil der arbeitsvertraglichen
Vereinbarungen der Parteien. Es handelt sich nicht um eine überraschende
Klausel iSd. § 305c Abs. 1 BGB.
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(1)
Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die nach den
Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags,
so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht
zu rechnen braucht, werden nicht Vertragsbestandteil .
(2)
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 305c Abs. 1 BGB liegen
nicht vor. Ein Überraschungsmoment ergibt sich weder aus der äußeren Form
und Positionierung der in einem gesonderten Paragrafen vereinbarten Klausel
noch aus ihrer inhaltlichen Gestaltung. Ein Arbeitnehmer, der einen Arbeitsver-
trag mit einer Einrichtung eines Diakonischen Werks schließt, hat davon auszu-
gehen, dass sein Arbeitgeber das spezifisch kirchliche Vertragsrecht in seiner
jeweiligen Fassung zum Gegenstand des Arbeitsverhältnisses machen will,
zumal er kirchenrechtlich dazu verpflichtet ist
.
bb)
Die Verweisungsklausel, die mit den AVR ein anderes Regelwerk in
seiner jeweils gültigen Fassung in Bezug nimmt, verstößt nicht gegen das
Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.
(1)
Verweist eine Regelung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf
Vorschriften eines anderen Regelwerks, führt dies für sich genommen nicht zur
Intransparenz
. Sinn des Transparenzgebots ist es, der Gefahr vorzubeugen, dass der
Arbeitnehmer von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten wird. Erst
in der Gefahr, dass der Arbeitnehmer wegen unklar abgefasster Allgemeiner
Geschäftsbedingungen seine Rechte nicht wahrnimmt, liegt eine unangemes-
sene Benachteiligung iSv. § 307 Abs. 1 BGB
. Umstände, die auf eine solche Gefahr hindeuten, hat der Kläger
nicht vorgetragen; im Übrigen sind sie nicht ersichtlich.
(2)
Der Umstand, dass § 2 des Arbeitsvertrags die AVR nicht statisch,
sondern in ihrer jeweils gültigen Fassung in Bezug nimmt, begegnet unter dem
Gesichtspunkt der Transparenz keinen durchgreifenden Bedenken. Arbeitsver-
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tragliche Bezugnahmen auf andere Regelwerke entsprechen einer im Arbeits-
recht gebräuchlichen Regelungstechnik. Die Dynamisierung dient wegen des
Zukunftsbezugs des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis den Inte-
ressen beider Seiten. Die im Zeitpunkt der jeweiligen Anwendung einbezoge-
nen Regelungen sind hinreichend bestimmbar
.
cc)
Bezugnahmeklauseln wie in § 2 des Arbeitsvertrags verstoßen schließ-
lich nicht gegen das Klauselverbot des § 308 Nr. 4 BGB
.
b)
Die Ausschlussbestimmung des § 45 Abs. 2 AVR ist rechtswirksam.
aa)
Nimmt ein Arbeitsvertrag auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsricht-
linien Bezug, sind auch diese am Maßstab des § 305 ff. BGB zu messen
.
bb)
Die Regelung in § 45 Abs. 2 AVR benachteiligt Arbeitnehmer nicht
unangemessen iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB.
(1)
Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts geht davon aus, für
kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien gelte ein gegenüber üblichen AGB einge-
schränkter Prüfungsmaßstab
. Regelungen, die auf dem Dritten Weg entstünden, hätten die Gerichte für
Arbeitssachen lediglich daraufhin zu prüfen, ob sie gegen die Verfassung,
gegen anderes höherrangiges zwingendes Recht oder die guten Sitten verstie-
ßen. Der Senat kann die Frage des Prüfungsmaßstabs offenlassen, da § 45
Abs. 2 AVR auch einer uneingeschränkten Überprüfung am Maßstab des § 307
Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB standhält.
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(2)
§ 307 Abs. 1 BGB steht der Klausel nicht entgegen. Die Frist ist ausrei-
chend lang bemessen; der Inhalt der Bestimmung ist hinreichend klar und
verständlich.
(a)
Nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB sind Bestimmungen in Allgemeinen
Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwen-
ders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteili-
gen. Eine einzelvertragliche Verfallfrist, die wie § 45 Abs. 2 AVR eine Geltend-
machung innerhalb eines Zeitraums von mehr als drei Monaten verlangt,
begegnet in AGB-rechtlicher Hinsicht keinen durchgreifenden Bedenken
.
(b)
Die Klausel ist auch nicht intransparent iSd. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.
Zwar heißt es nicht ausdrücklich, dass Ansprüche verfallen, wenn sie nicht
rechtzeitig geltend gemacht werden. Dies ist jedoch auch nicht erforderlich. Die
Überschrift von § 45 AVR „Ausschlussfristen“ lässt hinreichend deutlich erken-
nen, dass der Arbeitnehmer mit seinen Ansprüchen ausgeschlossen ist, wenn
er diese nicht binnen der in der Klausel bezeichneten Frist geltend macht
.
c)
Ansprüche auf Urlaubsabgeltung unterfallen als „Ansprüche aus dem
Dienstverhältnis“ der Ausschlussfrist des § 45 Abs. 2 AVR. Der dort angeordne-
te Verfall ist unabhängig davon wirksam, ob der Anspruch auf die Abgeltung
des gesetzlichen Mindesturlaubs oder auf die Abgeltung des übergesetzlichen
Urlaubs gerichtet ist. Dem steht weder der unabdingbare Schutz des gesetzli-
chen Mindesturlaubs nach §§ 1, 3 Abs. 1, § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG noch die
vom Gerichtshof der Europäischen Union vorgenommene und für den Senat
nach Art. 267 AEUV verbindliche Auslegung der Richtlinie 2003/88/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über be-
stimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung
entgegen.
aa)
Nach der früheren Senatsrechtsprechung ließen tarifliche Ausschluss-
fristen den Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Urlaubs unberührt. Dies
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galt selbst in den Fällen, in denen die Tarifvorschrift alle Ansprüche aus dem
Arbeitsverhältnis befristete
.
bb)
Das mit der Surrogation begründete Merkmal der Erfüllbarkeit des
Freistellungsanspruchs im fiktiv fortbestehenden Arbeitsverhältnis
hat
der Senat in Umsetzung der Vorabentscheidung des EuGH in der Rechtssache
Schultz-Hoff aufgegeben
. Danach ist der Urlaubs-
abgeltungsanspruch nach der reformierten Rechtsprechung nur noch ein reiner
Geldanspruch. Deshalb unterfällt er auch allen Bedingungen, die nach den AVR
für die Geltendmachung von Geldansprüchen vorgeschrieben sind. Dies gilt
auch insoweit, als ein Arbeitnehmer den in § 1 Abs. 1 BUrlG verbürgten An-
spruch auf gesetzlichen Mindesturlaub abgegolten verlangt. Wie der Senat in
der Leitentscheidung vom zu
tariflichen Ausschlussfristen ausführlich begründet hat, verstößt die Anwendung
von Ausschlussfristen weder gegen den in § 13 Abs. 1 BUrlG geregelten
Grundsatz der Unabdingbarkeit gesetzlichen Mindesturlaubs noch gegen Art. 7
Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie und die hierzu vom Gerichtshof der Europäischen
Union aufgestellten Grundsätze.
cc)
Die Erwägungen, die der Senat in der Entscheidung vom 9. August
2011 für tarifliche Ausschlussfristen näher dargelegt hat,
gelten für Ausschlussfristen in kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien gleicherma-
ßen. Denn die Rechtsnatur der Ausschlussregelung ist für ihre Anwendbarkeit
auf Urlaubsabgeltungsansprüche unerheblich. Entscheidend ist allein, dass der
Abgeltungsanspruch einen reinen Geldanspruch darstellt, der nach seiner
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Entstehung, dh. nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, denselben
Regelungen unterfällt und daher auch in derselben Weise wie andere Zah-
lungsansprüche befristet ist. Sofern es sich nicht um Entgeltansprüche handelt,
fallen Zahlungsansprüche als „andere Ansprüche aus dem Dienstverhältnis“
unter § 45 Abs. 2 AVR.
d)
Der Kläger hat den Anspruch nicht binnen der sechsmonatigen Aus-
schlussfrist des § 45 Abs. 2 AVR geltend gemacht. Der Anspruch auf Urlaubs-
abgeltung war mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. März 2007
fällig. Der Kläger hätte den Anspruch deshalb spätestens bis zum 30. Sep-
tember 2007 schriftlich gegenüber dem Beklagten geltend machen müssen.
Diese Frist hat er mit dem Geltendmachungsschreiben seines Prozessbevoll-
mächtigten vom 5. Februar 2009 nicht gewahrt.
aa)
Der Anspruch eines Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, nicht
genommenen Urlaub abzugelten, ist mit der Beendigung des Arbeitsverhältnis-
ses fällig
. Die Fälligkeit des Anspruchs
ist nicht erst mit Verkündung der Leitentscheidung des EuGH vom 20. Januar
2009 eingetreten.
Für den Verfall eines Anspruchs kommt es regelmäßig nicht auf die Kenntnis
des Gläubigers von dem Anspruch an
. Ein Auseinanderfallen von Entstehungs- und Fälligkeitszeitpunkt kann
nur unter besonderen Umständen angenommen werden. Solche liegen bei-
spielsweise vor, wenn es dem Gläubiger praktisch unmöglich ist, den Anspruch
mit seinem Entstehen geltend zu machen. Das ist etwa der Fall, wenn die
rechtsbegründenden Tatsachen in der Sphäre des Schuldners liegen und der
Gläubiger es nicht durch schuldhaftes Zögern versäumt hat, sich Kenntnis von
den Voraussetzungen zu verschaffen, die er für die Geltendmachung benötigt
. Solche besonderen Umstände hat der Kläger nicht vorgetra-
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gen; im Übrigen sind sie nicht ersichtlich. Dem Kläger war es unabhängig von
der Entscheidung des EuGH möglich, den nunmehr erhobenen Anspruch
fristgerecht gegenüber dem Beklagten schriftlich geltend zu machen. Die
Voraussetzungen, unter denen ein Anspruch auf Abgeltung nicht genommenen
Urlaubs besteht, waren dem Kläger zum Fälligkeitszeitpunkt, der Beendigung
des Arbeitsverhältnisses, bekannt.
bb)
Der Umstand, dass die Parteien im Jahr 2004 einen Rechtsstreit vor
dem Arbeitsgericht Wuppertal führten, befreite den Kläger nicht von der Oblie-
genheit, den im vorliegenden Rechtsstreit erhobenen Abgeltungsanspruch unter
Beachtung der in § 45 Abs. 2 AVR aufgeführten Frist geltend zu machen.
(1)
Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Kläger sich
nicht mit Erfolg auf die Vorschrift des § 45 Abs. 3 AVR berufen kann.
(a)
Nach dieser Vorschrift reicht für den gleichen Tatbestand die einmalige
Geltendmachung der Ansprüche aus, um die Ausschlussfrist auch für die später
fällig werdenden Ansprüche unwirksam zu machen.
(b)
Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 3 AVR liegen nicht vor.
(aa)
Die Parteien erzielten im Wege des gerichtlichen Vergleichs Einigkeit
darüber, dass dem Kläger zum 1. Juni 2004 43 Urlaubstage aus dem Jahr 2002
und anteilig aus dem Jahr 2003 zustanden.
(bb)
Der von dem Kläger in dem Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Wup-
pertal erhobene Urlaubsanspruch beruht nicht auf dem gleichen Tatbestand wie
der hier streitgegenständliche Urlaubsabgeltungsanspruch. Das Merkmal des
„gleichen Tatbestands“ setzt voraus, dass bei unveränderter rechtlicher und
tatsächlicher Lage Ansprüche aus einem bestimmten Tatbestand herzuleiten
sind
. Daran fehlt es im Streitfall. Der Urlaubsanspruch
einerseits und der Urlaubsabgeltungsanspruch andererseits hängen von ver-
schiedenen rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen ab. Der Entstehungstat-
bestand ist damit nicht, wie von § 45 Abs. 3 AVR gefordert, der gleiche. Wäh-
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rend es für den Urlaubsanspruch genügt, dass der Arbeitnehmer am 1. Januar
eines Urlaubsjahres in einem Arbeitsverhältnis steht, setzt der Urlaubsabgel-
tungsanspruch mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein zusätzliches
Tatbestandsmerkmal voraus. Dieses lag zu dem Zeitpunkt, zu dem die Parteien
den Vergleich vor dem Arbeitsgericht schlossen, nicht vor.
(2)
Mit Abschluss des Vergleichs vom 16. September 2004 hat der Beklag-
te nicht auf die Geltung von Ausschlussfristen verzichtet. Dies ergibt eine
Auslegung des Vergleichs.
(a)
Die Vorinstanzen haben den Vergleich nicht ausgelegt. Die Auslegung
von atypischen Willenserklärungen ist zwar grundsätzlich Sache der Tatsa-
chengerichte. Der Senat kann aber die gebotene Auslegung selbst vornehmen,
weil das Berufungsgericht die erforderlichen Feststellungen getroffen hat und
weiterer Sachvortrag nicht zu erwarten ist
.
(b)
Ausweislich ihres Wortlauts hat die vergleichsweise Einigung einen
zeitlichen Bezugspunkt, nämlich - wie später klargestellt - den 1. Juni 2004. Als
die Parteien den Vergleich am 16. September 2004 schlossen, lag dieser
Zeitpunkt in der Vergangenheit. Der Vergangenheitsbezug belegt, dass die
Parteien die Urlaubsansprüche des Klägers zu einem bestimmten Zeitpunkt
saldieren wollten. Dies lässt indes nicht den Schluss zu, die saldierten Ansprü-
che sollten in der Zukunft dem Regime der AVR entzogen sein. Es ist nicht so,
dass der Kläger den Urlaub, der Gegenstand der Einigung war, ohne Rücksicht
auf Übertragungsgründe oder Übertragungszeiträume hätte ansparen dürfen.
Insbesondere enthält die Vereinbarung schon ihrem Wortlaut nach keinen
Verzicht des Beklagten auf die in § 45 Abs. 2 AVR geregelte Ausschlussfrist.
e)
Der Kläger nimmt ohne Erfolg Vertrauensschutz für sich in Anspruch.
Der Senat braucht nicht darüber zu befinden, ob seine langjährige
Rechtsprechung, der zufolge Ausschlussfristen den Anspruch auf Abgeltung
des gesetzlichen Mindesturlaubs nicht berührten, geeignet war, ein schutzwür-
diges Vertrauen der Arbeitnehmer zu begründen. Spätestens nach Bekannt-
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werden des Vorabentscheidungsersuchens des Landesarbeitsgerichts Düssel-
dorf in der Sache Schultz-Hoff vom 2. August 2006
konnten Arbeitnehmer nicht mehr davon ausgehen, dass die
Senatsrechtsprechung zu den Grundsätzen der Unabdingbarkeit des Urlaubs-
abgeltungsanspruchs im Fall lang andauernder Arbeitsunfähigkeit unverändert
fortgeführt würde
. Durch das Vorabentscheidungsersuchen
wurde nicht nur ein einzelner Aspekt, wie das Erlöschen von Urlaubsabgel-
tungsansprüchen bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit, sondern die Recht-
sprechung zur Erfüllbarkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs nach der Surro-
gatstheorie infrage gestellt. Davon waren auch die Grundsätze betroffen, die
der Senat unter dem Regime der Surrogatstheorie zum Nichteingreifen von
tariflichen Ausschlussfristen entwickelt hatte.
f)
Höhere Gewalt stand einer fristgerechten Geltendmachung des erho-
benen Anspruchs nicht entgegen. Der in § 206 BGB normierte Rechtsgedanke
hindert nicht den Verfall des von dem Kläger geltend gemachten Anspruchs.
Nach § 206 BGB ist die Verjährung gehemmt, solange der Berechtigte
innerhalb der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch höhere Gewalt
an der Rechtsverfolgung gehindert ist. Diese Vorschrift wird als allgemeingülti-
ges Rechtsprinzip auch auf Ausschlussfristen angewandt
. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob § 206
BGB über seinen Wortlaut hinaus auf die Fälle einer sog. „gefestigten an-
spruchsfeindlichen Rechtsprechung“ anzuwenden ist
.
Denn die Vorschrift des § 45 Abs. 2 AVR verlangte von dem Kläger nicht die
Erhebung einer Klage vor dem Arbeitsgericht, sondern lediglich die fristgerechte
schriftliche Geltendmachung gegenüber dem Beklagten. Dies war ihm unab-
hängig von der damaligen Rechtsprechung möglich und zumutbar. Im Übrigen
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hätte eine Hemmung der Ausschlussfrist spätestens mit Bekanntwerden des
Vorabentscheidungsersuchens des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf in der
Sache Schultz-Hoff vom 2. August 2006
geendet. Ab diesem Zeitpunkt konnte der Kläger nicht davon ausgehen,
dass der Senat seine bisherige Rechtsprechung zur Surrogatstheorie fortführen
werde .
II.
Der Kläger hat als Revisionsführer die Kosten der ohne Erfolg eingeleg-
ten Revision zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.
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