Urteil des BAG vom 09.08.2011

Anwendbarkeit tariflicher Ausschlussfristen auf den Urlaubsabgeltungsanspruch - § 24 MTV Einzelhandel NRW

- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZR 365/10
10 Sa 203/10
Landesarbeitsgericht
Düsseldorf
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
9. August 2011
URTEIL
Brüne, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 9. August 2011 durch den Vorsitzenden Richter am Bundes-
arbeitsgericht Prof. Düwell, die Richter am Bundesarbeitsgericht Krasshöfer und
- 2 -
9 AZR 365/10
- 3 -
Dr. Suckow sowie die ehrenamtlichen Richter Schmid und Müller für Recht
erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts Düsseldorf vom 23. April 2010 - 10 Sa
203/10 - wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu
tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die 1959 geborene Klägerin verlangt von der Beklagten, den tariflichen
Mehrurlaub sowie den gesetzlichen Mindesturlaub für die Jahre 2006, 2007 und
2008 abzugelten.
Die Klägerin war bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen
seit dem 1. Februar 1980 als Verkäuferin mit einer regelmäßigen Wochen-
arbeitszeit von 16 Stunden beschäftigt. Nach Ziff. 1 des zwischen den Parteien
geschlossenen Arbeitsvertrags finden auf das Arbeitsverhältnis die Bestimmun-
gen des örtlich maßgeblichen Tarifvertrags für den Einzelhandel Anwendung.
Die Klägerin war seit dem 27. Januar 1997 durchgehend krankheitsbe-
dingt arbeitsunfähig. Mit Bescheid vom 6. Februar 2006 bewilligte ihr die Deut-
sche Rentenversicherung Bund bis zum Ablauf des Monats März 2008 eine
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Mit weiterem Bescheid vom 12. Dezember
2007 bewilligte sie der Klägerin ab dem 1. April 2008 eine unbefristete Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete mit
Ablauf des 31. März 2008. Mit Schreiben vom 26. Juni 2009 verlangte die
Klägerin von der Beklagten ohne Erfolg, ihren aus dem Zeitraum vom 1. Januar
2006 bis 31. März 2008 resultierenden Urlaub im Umfang von insgesamt
81 Tagen abzugelten.
1
2
3
- 3 -
9 AZR 365/10
- 4 -
Im Manteltarifvertrag für den Einzelhandel Nordrhein-Westfalen vom
25. Juli 2008 heißt es - soweit maßgeblich - wie folgt:
§ 15
Urlaub
(3) Der Urlaub beträgt je Kalenderjahr
nach dem vollendeten 30. Lebensjahr 36 Werktage.
(7) Der Urlaub ist möglichst im laufenden Kalenderjahr
zu gewähren und zu nehmen. Eine Übertragung des
Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statt-
haft, wenn dringende betriebliche oder in der Person
des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtferti-
gen. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach
Absatz 5 entstandener geringfügiger Teilurlaub auf
das nächste Kalenderjahr zu übertragen.
(8) Im Falle der Übertragung muss der Urlaub in den
ersten 4 Monaten des folgenden Kalenderjahres ge-
währt und genommen werden.
(9) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt
werden, so ist er abzugelten. Hierbei ist je Urlaubs-
tag 1/26 des Monatseinkommens zugrunde zu legen.
§ 24
Verfallklausel
(1) Die Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen
wie folgt:
b)
spätestens 3 Monate nach Beendigung des
Urlaubsjahres bzw. Beendigung des Arbeits-
verhältnisses:
Ansprüche auf Urlaub, Urlaubsabgeltung und
Sonderzahlungen;
(2) Die Ansprüche verfallen nicht, sofern sie innerhalb
der vorgenannten Fristen schriftlich geltend gemacht
worden sind.
4
- 4 -
9 AZR 365/10
- 5 -
(3) Vorstehende Fristen gelten als Ausschlussfristen.
…“
Die Klägerin vertritt die Auffassung, ihr Urlaubsabgeltungsanspruch sei
nicht nach § 24 MTV Einzelhandel verfallen. Tarifliche Ausschlussfristen seien
auf den Urlaubsabgeltungsanspruch nicht anzuwenden. Allenfalls könne der
tarifliche Mehrurlaub verfallen sein. Die Tarifvertragsparteien seien nach § 13
Abs. 1 BUrlG nicht befugt, die Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs
tariflichen Ausschlussfristen zu unterwerfen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.179,05 Euro brutto
nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basis-
zinssatz ab Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffas-
sung vertreten, die tarifliche Ausschlussfrist gelte für sämtliche Urlaubsabgel-
tungsansprüche. Das verstoße weder gegen die Vorschriften des Bundes-
urlaubsgesetzes noch gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG vom
4. November 2003.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin verfolgt mit der
Revision ihre Urlaubsabgeltungsansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
A.
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die klage-
abweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts zu Recht bestätigt. Die Klage ist
unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Abgeltung ihrer für die Zeit
vom 1. Januar 2006 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstandenen
Urlaubsansprüche. Die Abgeltungsansprüche sind gemäß § 24 Abs. 1 Buchst. b
MTV Einzelhandel verfallen.
5
6
7
8
9
- 5 -
9 AZR 365/10
- 6 -
I.
Der MTV Einzelhandel findet zumindest nach Ziff. 1 des Arbeitsvertrags
auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Danach gelten die Bestim-
mungen des örtlich maßgeblichen Tarifvertrags für den Einzelhandel. Das ist
vorliegend der MTV Einzelhandel.
II.
Es kann hier dahinstehen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang
für den streitgegenständlichen Zeitraum Urlaubsansprüche der Klägerin ent-
standen waren. Ein etwaiger Abgeltungsanspruch nach § 7 Abs. 4 BUrlG und
§ 15 Abs. 9 MTV Einzelhandel wäre jedenfalls gemäß § 24 Abs. 1 Buchst. b
MTV Einzelhandel verfallen. Nach dieser Tarifvorschrift verfallen Ansprüche auf
Urlaubsabgeltung spätestens drei Monate nach Beendigung des Arbeitsverhält-
nisses, wenn sie nicht innerhalb dieser Frist schriftlich geltend gemacht wurden
. Diese Frist wahrte die Klägerin hinsichtlich der
nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. März 2008 fälligen Urlaubs-
abgeltungsansprüche nicht. Sie machte die Ansprüche erst mit Schreiben vom
26. Juni 2009 gegenüber der Beklagten geltend.
III.
Urlaubsabgeltungsansprüche können tariflichen Ausschlussfristen
unterfallen.
1.
Die Tarifvertragsparteien haben in § 24 Abs. 1 Buchst. b MTV Einzel-
handel ausdrücklich die Geltung der Ausschlussfristen für Urlaubs- und
Urlaubsabgeltungsansprüche bestimmt. Eine solche Regelung durften sie auch
nach bisheriger Rechtsprechung des Senats für den tariflichen Mehrurlaub und
dessen Abgeltung treffen, obwohl der Senat bislang davon ausging, die gesetz-
liche Unabdingbarkeit erstrecke sich auch auf den Urlaubsabgeltungsanspruch
iSv. § 7 Abs. 4 BUrlG . Der
tarifliche Mehrurlaub und dessen Abgeltung unterfällt nicht dem tariflich unab-
dingbaren Schutz der §§ 1, 3 Abs. 1, § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG und auch nicht
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestal-
tung .
Einem tariflich angeordneten Verfall des übergesetzlichen Urlaubsanspruchs
und seiner Abgeltung steht nach dem klaren Richtlinienrecht und der gesicher-
10
11
12
13
- 6 -
9 AZR 365/10
- 7 -
ten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kein Unions-
recht entgegen
. Die Tarifvertragsparteien können Urlaubs- und Urlaubsab-
geltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie gewähr-
leisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjah-
resurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln
. Nur für den gesetzlichen Mindesturlaub oder dessen Abgeltung war es
nach bisheriger Rechtsprechung ausgeschlossen, tarifliche Ausschlussfristen
anzuwenden .
2.
Der in § 24 Abs. 1 Buchst. b MTV Einzelhandel für alle Urlaubsabgel-
tungsansprüche bei Nichteinhaltung der Ausschlussfrist angeordnete Verfall ist
auch für die Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs wirksam. Dem steht
weder der unabdingbare Schutz des gesetzlichen Mindesturlaubs nach §§ 1, 3
Abs. 1, § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG noch die vom Gerichtshof der Europäischen
Union vorgenommene und für den Senat nach Art. 267 AEUV verbindliche
Auslegung der Richtlinie 2003/88/EG entgegen.
a)
Nach der früheren Senatsrechtsprechung unterlag der Anspruch auf
Abgeltung des gesetzlichen Urlaubs nicht den tariflichen Ausschlussfristen,
selbst wenn diese umfassend alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis betra-
fen
. Begründet
wurde dies damit, dass der Abgeltungsanspruch als Ersatz für den unantastba-
ren Urlaubsanspruch nach § 1 und § 3 Abs. 1 BUrlG nicht zur Disposition der
Tarifvertragsparteien stehe. Die gesetzliche Unabdingbarkeit nach § 13 Abs. 1
BUrlG erstrecke sich auch auf den Urlaubsabgeltungsanspruch. Er sei ebenso
wie der gesetzliche Urlaubsanspruch selbst unabdingbar
14
15
- 7 -
9 AZR 365/10
- 8 -
. Da der
Urlaubsabgeltungsanspruch kein einfacher Geldanspruch, sondern ein Surrogat
des Urlaubsanspruchs sei, würden für ihn dieselben Regeln gelten, insbesonde-
re auch der Schutz des § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG
. In dem seiner Entschei-
dung vom 24. März 2009 zugrunde liegen-
den Fall hatte der Arbeitnehmer die Urlaubsabgeltung rechtzeitig geltend
gemacht. Deshalb konnte der Senat die Frage, ob die Versäumung von Aus-
schlussfristen trotz des vom EuGH zugebilligten besonderen Schutzes des
krankheitsbedingt arbeitsunfähigen Arbeitnehmers zum Verfall eines Urlaubs-
abgeltungsanspruchs führen kann, ausdrücklich offenlassen
. Hier bedarf es einer Stellungnahme; denn
diese Rechtsfrage ist im Streitfall entscheidungserheblich.
b)
Die bisherige Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit von tariflichen
Ausschlussfristen kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Das ist eine Fol-
gewirkung der Aufgabe der Surrogatstheorie
. Ist
der Urlaubsabgeltungsanspruch nach der reformierten Rechtsprechung nur ein
reiner Geldanspruch, so unterfällt er auch den Bedingungen, die nach dem
anwendbaren Tarifvertrag für die Geltendmachung von Geldansprüchen vorge-
schrieben sind. Dazu gehören auch tarifliche Ausschlussfristen.
aa)
Der Urlaubsabgeltungsanspruch stellt bei andauernder Arbeitsunfähig-
keit eine auf eine finanzielle Vergütung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Arbeits-
zeitrichtlinie gerichtete reine Geldforderung dar
. Er entsteht mit Beendigung des Arbeits-
verhältnisses und bleibt in seinem Bestand unberührt, selbst wenn die Arbeits-
unfähigkeit des Arbeitnehmers auch über das Ende des Übertragungszeitraums
am 31. März des Folgejahres und darüber hinaus fortdauert
16
17
- 8 -
9 AZR 365/10
- 9 -
. Der Mindesturlaub ist bei Beendigung des
Arbeitsverhältnisses unabhängig von der Erfüllbarkeit des Freistellungsan-
spruchs in einem gedachten fortbestehenden Arbeitsverhältnis nach § 7 Abs. 4
BUrlG abzugelten
.
bb)
Der Urlaubsabgeltungsanspruch ist auch im Fall der andauernden
Arbeitsunfähigkeit nicht mehr befristet. Während unter Geltung der Surrogats-
theorie der Urlaubsabgeltungsanspruch nur erfüllbar und damit fällig wurde,
soweit der Arbeitnehmer spätestens vor dem Ablauf der Übertragungsdauer
seine Arbeitsfähigkeit wiedererlangte
, hat nach der Aufgabe dieser Theorie der Ablauf des Bezugs- bzw.
Übertragungszeitraums keine rechtliche Bedeutung mehr. Als reiner Geldan-
spruch entsteht der Abgeltungsanspruch mit der Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses und wird nach § 271 BGB sofort fällig
. Die Anwendbarkeit von Ausschlussfristen kann
deshalb nicht mehr mit dem Hinweis auf das eigenständige Fristenregime des
BUrlG abgelehnt werden.
Anderenfalls erhielte ein dauerhaft bis zum Lebensende arbeitsunfähig
erkrankter Arbeitnehmer, der aus einem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist,
niemals eine Urlaubsabgeltung. Ein solches Ergebnis wäre nach der Entschei-
dung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff nicht mit Art. 7 Abs. 2 der
Arbeitszeitrichtlinie vereinbar. Danach soll der ausgeschiedene Arbeitnehmer
auch bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit in den Genuss einer finanziellen
(Urlaubs-)Vergütung kommen. So hat der Gerichtshof ausdrücklich erkannt,
dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen ist, „dass er
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach
denen für nicht genommenen Jahresurlaub am Ende des Arbeitsverhältnisses
keine finanzielle Vergütung gezahlt wird, wenn der Arbeitnehmer während des
gesamten Bezugszeitraums und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils
davon krankgeschrieben bzw. im Krankheitsurlaub war und deshalb seinen
18
19
- 9 -
9 AZR 365/10
- 10 -
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte“
.
cc)
Dem steht auch nicht entgegen, dass die Generalanwältin Trstenjak in
ihren Schlussanträgen vom 7. Juli 2011 in der beim Gerichtshof anhängigen
Rechtssache KHS AG gegen Schulte den Abgeltungsan-
spruch missverständlich als „Surrogat“ bezeichnet hat. Die Generalanwältin hat
nicht auf den Surrogatsbegriff, wie ihn die urlaubsrechtlichen Senate des
Bundesarbeitsgerichts in ständiger Rechtsprechung bis zum 20. Januar 2009
als Fachbegriff der Surrogatstheorie geprägt haben, Bezug genommen. Sie hat
lediglich auf Darstellungen arbeitsrechtlicher Praktiker in Zeitschriften verwie-
sen. Den von ihr benutzten Begriff hat sie inhaltlich damit umschrieben, dass
der „Urlaub nicht durch eine finanzielle Vergütung ‚ersetzt’ und nicht ‚abgefun-
den’ werden“ dürfe. Er diene „dem Zweck, den Arbeitnehmer finanziell in eine
Lage zu versetzen, die es ihm erlaubt, seinen Jahresurlaub nachzuholen, und
zwar unter vergleichbaren Bedingungen, als wenn er weiter tätig wäre und ein
Urlaubsentgelt gemäß Art. 7 Abs. 1“ der Richtlinie 2003/88/EG beziehen würde.
Danach meint sie, Funktion des Surrogats sei, eine Abfindungspraxis zu ver-
meiden. Dieser Inhalt ist mit der seit dem Urteil vom 24. März 2009
entwickelten Rechtsprechungslinie des Senats ver-
einbar. Dass die Generalanwältin das Wort „Surrogat“ nicht im Sinne des
urlaubsrechtlichen Fachbegriffs verwendet, wird durch ihre weiteren Ausführun-
gen in den Schlussanträgen deutlich. Sie schlägt dem Gerichtshof der Europäi-
schen Union nämlich vor, nur in der umstrittenen Frage der Ansammlung von
Urlaubsansprüchen seine bisherige Rechtsprechung zu präzisieren und Klarheit
herzustellen
. Hinsichtlich des „wichtigen finanziellen Aspekts der Urlaubs-
abgeltung“ empfiehlt sie, an der Antwort in der Rechtssache Schultz-Hoff
festzuhalten. In den von den Schlussanträgen in Bezug genommenen Stellen
geht der EuGH für den Fall der nachgewiesenen krankheitsbedingten Arbeits-
unfähigkeit davon aus, „dass die in Art. 7 Abs. 2 vorgesehene finanzielle Vergü-
tung verhindern soll, dass dem Arbeitnehmer wegen der mit der Beendigung
des Arbeitsverhältnisses einhergehenden Unmöglichkeit, den tatsächlich
20
- 10 -
9 AZR 365/10
- 11 -
bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, jeder Genuss dieses Anspruchs, ‚selbst in
finanzieller Form’, verwehrt wird“
. Für einen Fall wie dem des dauererkrankten
Klägers Schultz-Hoff hat der EuGH ausdrücklich festgestellt, es sei mit Art. 7
Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie unvereinbar, dem kranken Arbeitnehmer bei
seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis die finanzielle Vergütung für
den nicht genommenen Urlaub unter Hinweis auf die fortbestehende Erkran-
kung zu verwehren
. Das war zwingender Anlass für den
erkennenden Senat, die Surrogatstheorie aufzugeben. Die Ausführungen der
Generalanwältin enthalten zwar den Begriff Surrogat. Ihnen liegt jedoch nicht
die vom Senat aufgegebene Surrogatstheorie zugrunde. Deshalb sieht der
Senat keinen Grund anzunehmen, dass die in der Rechtssache Schultz-Hoff
gefundene Auslegung des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG durch den
EuGH zwischenzeitlich klärungsbedürftig geworden sei.
dd)
Aus alldem ergibt sich: Der Urlaubsabgeltungsanspruch wird auch im
Fall der Arbeitsunfähigkeit mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig
.
3.
Die hier anzuwendende tarifliche Ausschlussfrist des § 4 MTV Einzel-
handel ist nicht nach § 13 Abs. 1 BUrlG iVm. § 134 BGB unwirksam, weil sie
den Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs einschließt.
a)
Der Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs stellt
zumindest bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit und der jedenfalls insoweit
erfolgten Aufgabe der Surrogatstheorie einen reinen Geldanspruch dar, der sich
nicht mehr von sonstigen Entgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unter-
scheidet. Hieraus folgt zugleich, dass er grundsätzlich wie jeder andere An-
spruch aus dem Arbeitsverhältnis zu behandeln ist und auch Ausschlussfristen
unterliegen kann
21
22
23
- 11 -
9 AZR 365/10
- 12 -
. Ebenso wie der
Anspruch auf Urlaubsentgelt
kann deshalb bei Nichtbeachtung einer anwendbaren
tariflichen Ausschlussfrist auch der Abgeltungsanspruch verfallen.
b)
Selbst wenn der Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Mindest-
urlaubs wie der Mindesturlaub unabdingbar wäre, würde dies die Anwendung
tariflicher Ausschlussfristen nicht ausschließen. Der Anspruch auf Abgeltung
des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs wird nicht beseitigt. Der Arbeitneh-
mer wird lediglich gehalten, diesen innerhalb der tariflichen Verfallfristen geltend
zu machen. Ausschlussfristen können auch für unabdingbare Ansprüche gelten
.
4.
Die Anwendung von tariflichen Ausschlussfristen verstößt nicht gegen
Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie. Sie ist insbesondere mit Art. 7 Abs. 2 der Arbeits-
zeitrichtlinie und den hierzu vom Gerichtshof der Europäischen Union aufge-
stellten Grundsätzen vereinbar
24
25
- 12 -
9 AZR 365/10
- 13 -
.
a)
Nach der Entscheidung des EuGH vom 20. Januar 2009 ist zwar Art. 7
Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie dahin auszulegen, „dass er einzelstaatlichen
Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen für nicht
genommenen Jahresurlaub am Ende des Arbeitsverhältnisses keine finanzielle
Vergütung gezahlt wird, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Be-
zugszeitraums und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils davon krank-
geschrieben bzw. im Krankheitsurlaub war und deshalb seinen Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte“
. Dabei sind
die Begriffe „einzelstaatliche Rechtsvorschriften und/oder einzelstaatliche
Gepflogenheiten“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG weit zu verste-
hen. Erfasst werden insbesondere auch tarifvertragliche Regelungen
.
b)
Diese Auslegung des Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie bedingt nicht,
dass tarifliche Ausschlussfristen auf den Urlaubsabgeltungsanspruch keine
Anwendung finden dürfen. Denn der EuGH hat ferner in seiner Entscheidung zu
Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie ausgeführt, dass dieser grundsätzlich einer natio-
nalen Regelung nicht entgegenstehe, wonach für die Ausübung des mit dieser
Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub
gewisse Modalitäten zu beachten seien. Dies gelte selbst dann, wenn diese
Modalitäten den Verlust des Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder
eines Übertragungszeitraums beinhalteten. Insoweit sei alleinige Vorausset-
zung, dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätte, den ihm
mit der Richtlinie verliehenen Anspruch auszuüben
26
27
- 13 -
9 AZR 365/10
- 14 -
.
c)
Diese von der Richtlinie eingeräumte Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der
Ausübung des Urlaubsanspruchs gilt gleichermaßen für den aus Art. 7 Abs. 2
der Richtlinie 2003/88/EG folgenden Anspruch auf eine finanzielle Vergütung.
Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie soll lediglich verhindern, dass dem Arbeit-
nehmer wegen der Unmöglichkeit der Urlaubsnahme aufgrund der Beendigung
des Arbeitsverhältnisses jeder Genuss des bezahlten Jahresurlaubs, sei es
auch nur in finanzieller Form, verwehrt wird
.
d)
Diesem Zweck stehen nationale Regelungen über Ausübungsmodalitä-
ten, selbst wenn sie bei Nichtbeachtung zum Verlust des Anspruchs führen
können, solange nicht entgegen, wie der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglich-
keit behält, das ihm mit der Richtlinie 2003/88/EG verliehene Recht auf Urlaubs-
abgeltung auszuüben. Die Entstehung der finanziellen Vergütung aus Art. 7
Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie wird durch eine Ausschlussfrist gerade nicht von
einer weiteren Voraussetzung abhängig gemacht. Tarifliche Ausschlussfristen
betreffen nämlich nicht den Inhalt eines Anspruchs, sondern regeln vielmehr
lediglich den Fortbestand eines bereits entstandenen Rechts
. Sie beziehen sich daher gerade nicht auf das Recht als
solches, sondern lediglich auf dessen Geltendmachung. Die zeitliche Begren-
zung des Urlaubsabgeltungsanspruchs durch das Erfordernis der rechtzeitigen
Geltendmachung aufgrund einer tariflichen Ausschlussfrist ändert deshalb auch
nichts daran, dass es dem Arbeitnehmer selbst bei über die Beendigung des
Arbeitsverhältnisses hinaus fortbestehender Arbeitsunfähigkeit regelmäßig
tatsächlich möglich ist, seinen Anspruch zu verwirklichen. Das Unionsrecht will
nach den vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Grundsätzen
zu Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie nur denjenigen Arbeitnehmer schützen, der
objektiv wegen Arbeitsunfähigkeit gehindert ist, seine Ansprüche zu realisieren,
nicht hingegen auch den, der lediglich untätig bleibt und ohne Not Fristen
28
29
- 14 -
9 AZR 365/10
- 15 -
versäumt
.
IV.
Die Klägerin kann im Hinblick auf die Versäumung der tariflichen Aus-
schlussfrist auch keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen.
1.
Dabei kann es vorliegend dahingestellt bleiben, ob die dargestellte
langjährige Rechtsprechung des Senats zur Unabdingbarkeit
des Abgeltungsanspruchs hinsichtlich des gesetzlichen Mindesturlaubs
aus § 7 Abs. 4 BUrlG überhaupt geeignet war, ein schutzwürdiges Vertrauen
der Arbeitnehmer in deren Fortbestand zu begründen. Für die Arbeitgeber
bestand mit Ablauf der Umsetzungsfrist der ersten Arbeitszeitrichtlinie
93/104/EG am 23. November 1996 bereits kein schützenswertes Vertrauen in
den Fortbestand der bisherigen Senatsrechtsprechung zur Surrogatstheorie
mehr
. Ob dieser Zeitpunkt auch für
Arbeitnehmer maßgeblich ist, kann ebenfalls unentschieden bleiben, da der
Urlaubsabgeltungsanspruch erst im Frühjahr 2008 und damit sogar nach
Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens des Landesarbeitsgerichts
Düsseldorf in der Sache Schultz-Hoff vom 2. August 2006
entstanden ist. Spätestens ab diesem Zeitpunkt konn-
ten auch Arbeitnehmer nicht mehr davon ausgehen, dass die Senatsrechtspre-
chung zu den Grundsätzen der Unabdingbarkeit des Urlaubsabgeltungsan-
spruchs im Fall lang andauernder Arbeitsunfähigkeit unverändert fortgeführt
würde
. Der Vertrauensverlust ist insoweit umfassend und betrifft nicht
lediglich den einzelnen Aspekt des Erlöschens von Urlaubsabgeltungsansprü-
chen bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit. Denn jedenfalls durch das
Vorabentscheidungsersuchen wurde die Rechtsprechung zur Surrogatstheorie
bei andauernder Arbeitsunfähigkeit von Grund auf infrage gestellt. Es bestand
spätestens ab diesem Zeitpunkt auch für Arbeitnehmer insgesamt kein Grund
30
31
- 15 -
9 AZR 365/10
- 16 -
mehr, in die Rechtsprechung zum Urlaub und zur Urlaubsabgeltung bei lang
andauernder Arbeitsunfähigkeit zu vertrauen
. Deshalb gilt dies auch für die Rechtsprechungsgrundsätze zum Nicht-
eingreifen von tariflichen Ausschlussfristen.
2.
Gegen die Gewährung von Vertrauensschutz zugunsten der Klägerin
spricht zudem, dass ihr durch die Rechtsprechungsänderung nichts genommen
wird, was ihr bei Fortbestehen der bisherigen Rechtsprechung zugestanden
hätte. Denn auch nach der bisherigen Rechtsprechung hätte die Klägerin
keinen Anspruch auf Urlaubsabgeltung gehabt. So wäre dieser wegen der
andauernden Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf des tariflichen Übertragungszeit-
raums des § 15 Abs. 8 MTV Einzelhandel zum 30. April 2008 erloschen.
3.
Die Klägerin beruft sich auch ohne Erfolg darauf, ihr Anspruch sei erst
mit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union
im
Sinne der Ausschlussfrist entstanden oder fällig geworden. Sie habe erst infolge
dieser Entscheidung von dem Bestehen ihres Anspruchs Kenntnis erlangen
können. Vorher habe es keine Veranlassung gegeben, den nach der gefestig-
ten Rechtsprechung nicht bestehenden Anspruch geltend zu machen. Dem
steht schon entgegen, dass es für den Verfall auf die Kenntnis des Bestehens
eines Anspruchs regelmäßig nicht ankommt
. Auch § 24 MTV Einzelhandel verlangt für den Beginn der Verfall-
frist nicht, dass der Berechtigte Kenntnis vom Bestehen seines Anspruchs hat.
Zudem machte die Klägerin ihren Anspruch erst mit Schreiben vom 26. Juni
2009 geltend. Selbst wenn der Lauf der Ausschlussfrist erst im Januar 2009 mit
der Verkündung der Entscheidung des EuGH begonnen hätte, wahrt die Gel-
tendmachung im Juni 2009 die dreimonatige Ausschlussfrist nicht.
V.
Die Klägerin kann sich auch nicht auf höhere Gewalt berufen. Nach
§ 206 BGB ist die Verjährung gehemmt, solange der Berechtigte innerhalb der
letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch höhere Gewalt an der Rechts-
32
33
34
- 16 -
9 AZR 365/10
- 17 -
verfolgung gehindert ist. Diese Vorschrift wird als allgemeingültiges Rechtsprin-
zip auch auf tarifliche Ausschlussfristen angewandt
.
1.
Der Senat braucht nicht darüber zu befinden, ob diese Vorschrift auch
auf eine „gefestigte anspruchsfeindliche Rechtsprechung“ anzuwenden ist
. Denn die Hemmung der tariflichen Ausschlussfrist wäre spätestens mit
dem öffentlichen Bekanntwerden der Entscheidung des Gerichtshofs der
Europäischen Union
beendet worden. Ab diesem Zeitpunkt durfte die
Klägerin insgesamt nicht mehr erwarten, dass das Bundesarbeitsgericht seine
ständige Rechtsprechung fortführt. Das gilt auch für das Vorbringen, die bishe-
rige Rechtsprechung, tarifliche Ausschlussfristen auf den gesetzlichen Mindest-
urlaub und dessen Abgeltungsanspruch als Surrogat nicht anzuwenden
,habe sie
von der Geltendmachung abgehalten. Denn in der Rechtssache Schultz-Hoff
hat der EuGH ausdrücklich erkannt, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie
2003/88/EG dahin auszulegen ist, „dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften
oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen für nicht genommenen
Jahresurlaub am Ende des Arbeitsverhältnisses keine finanzielle Vergütung
gezahlt wird, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums
und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben
bzw. im Krankheitsurlaub war und deshalb seinen Anspruch auf bezahlten
Jahresurlaub nicht ausüben konnte“
. Nach dieser verbindlichen Auslegung
war das von der Surrogatstheorie aufgestellte Merkmal der Erfüllbarkeit nicht
mehr mit der Arbeitszeitrichtlinie vereinbar und es musste erwartet werden,
dass die Rechtsprechung den Urlaubsabgeltungsanspruch entsprechend dem
Wortlaut des § 7 Abs. 4 BUrlG wie den Anspruch auf Urlaubsentgelt als reinen
Geldanspruch ansieht. Für den Anspruch auf Urlaubsentgelt hatte zu dieser Zeit
der Senat bereits in ständiger Rechtsprechung angenommen, dieser unterliege
35
- 17 -
9 AZR 365/10
anders als der Anspruch auf Urlaubsgewährung dem tariflichen Verfall
.
2.
Auch wenn zugunsten der Klägerin auf das Bekanntwerden der Vorab-
entscheidung in der Rechtssache Schultz-Hoff abgestellt würde, wäre die
Geltendmachung im Juni 2009 nicht geeignet, die dreimonatige tarifliche Aus-
schlussfrist zu wahren. Die vorgeschriebene schriftliche Geltendmachung
gegenüber der Beklagten war auch nach der verlangten Art der Geltendma-
chung der Klägerin möglich und zumutbar. Ob dies auch für eine zweistufige
Ausschlussfrist mit der Obliegenheit zur gerichtlichen Geltendmachung gelten
würde
, bedarf hier keiner Stellungnahme des Senats.
B.
Die Klägerin hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen
Revision zu tragen.
Düwell
Suckow
Krasshöfer
W. Schmid
G. Müller
36
37