Urteil des BAG vom 23.03.2011

"Equal Pay"-Anspruch des Leiharbeitnehmers und Ausschlussfrist

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BUNDESARBEITSGERICHT
5 AZR 7/10
3 Sa 579/09
Landesarbeitsgericht
München
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
23. März 2011
URTEIL
Metze, Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger,
Berufungsbeklagter und Revisionskläger,
pp.
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsbeklagte,
hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 23. März 2011 durch den Vizepräsidenten des Bundesarbeits-
gerichts Dr. Müller-Glöge, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Laux, den
Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Biebl sowie den ehrenamtlichen Richter
Haas und die ehrenamtliche Richterin Zorn für Recht erkannt:
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1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts München vom 12.
November 2009
- 3 Sa 579/09 - wird als unzulässig verworfen, soweit
das Landesarbeitsgericht unter Abänderung des Urteils
des Arbeitsgerichts Regensburg vom 5.
Juni 2009
- 3 Ca 3306/08 - den Anspruch des Klägers auf Ab-
geltung von Resturlaub aus den Jahren 2005 und 2006
in Höhe von 919,60 Euro brutto nebst Zinsen ab-
gewiesen hat.
2. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Landesarbeitsgerichts München vom 12.
November
2009 - 3 Sa 579/09 - aufgehoben, soweit es auf die Be-
rufung der Beklagten unter Abänderung des Urteils des
Arbeitsgerichts Regensburg vom 5. Juni 2009 - 3 Ca
3306/08
- die Klage hinsichtlich der Vergütungs-
ansprüche aus den Zeiträumen 25. Oktober 2005 bis
31. Mai 2006 und 1. August 2006 bis 30. April 2008 ab-
gewiesen hat.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen
Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten
der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückver-
wiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche aus einem beendeten
Arbeitsverhältnis.
Der Kläger war vom 25. Oktober 2005 bis zum 30. Juni 2008 bei der
Beklagten nach Maßgabe eines schriftlichen Anstellungsvertrags als Berater
beschäftigt. Die Parteien vereinbarten eine wöchentliche Arbeitszeit von
40 Stunden. Der Kläger war verpflichtet, monatlich weitere acht Überstunden
ohne besondere Vergütung zu leisten. Das Bruttogehalt betrug zunächst
3.462,00 Euro, ab April 2007 3.850,00 Euro. Darüber hinaus zahlte die Beklagte
Sondervergütungen, Prämien und einen monatlichen Mietzuschuss. Anfänglich
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stand dem Kläger Erholungsurlaub von 25 Arbeitstagen, ab 2007 von 30 Ar-
beitstagen zu. Eine Ausschlussfrist vereinbarten die Parteien nicht.
Die Beklagte setzte den Kläger - mit Ausnahme der Monate Juni und
Juli 2006 - während der gesamten Beschäftigungsdauer im Rahmen einer
gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung bei der C GmbH als Entwicklungs-
ingenieur ein. Die Entleiherin war kraft Verbandsmitgliedschaft an die Tarifver-
träge der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie gebunden, arbeitsvertraglich
traf sie entsprechende Gleichstellungsabreden.
Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bat der Kläger die Ent-
leiherin um Auskunft über die wesentlichen Arbeitsbedingungen vergleichbarer
Arbeitnehmer. Mit Schreiben vom 28. Juli 2008 und 27. März 2009 antwortete
der Bayerische Unternehmensverband Metall und Elektro e. V. für sein Mit-
gliedsunternehmen, dass vergleichbare Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs
während des ersten Einsatzes des Klägers von Oktober 2005 bis zum 31. Mai
2006 bei einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden eine Monatsgrundvergütung
gemäß Gehaltsgruppe SBA VI 1 von 3.250,00 Euro brutto erhalten hätten. Zum
1. August 2006 hätte sich die Grundvergütung auf 3.348,00 Euro brutto erhöht.
Mit Einführung des neuen tariflichen Entgeltrahmenabkommens zum
1.
April 2007 habe die tarifliche Vergütung nach Entgeltgruppe
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3.604,00 Euro brutto, ab 1. Juni 2007 3.752,00 Euro brutto und ab 1. Juni 2008
3.816,00 Euro brutto betragen. Außerdem hätten vergleichbare Arbeitnehmer
während des ersten Einsatzes eine tarifliche Leistungszulage von 6,08 % und
während der Dauer des zweiten Einsatzes von 9,8 % der Grundvergütung
sowie ein tarifliches Weihnachtsgeld in Höhe eines nach Betriebszugehörigkeit
gestaffelten Prozentsatzes des Monatsverdienstes bezogen.
Nach § 17 des im Entleiherbetrieb geltenden Manteltarifvertrags (MTV)
sind Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis binnen einer Ausschlussfrist von drei
Monaten schriftlich und nach Ablehnung durch den Arbeitgeber binnen einer
Ausschlussfrist von sechs Monaten gerichtlich geltend zu machen.
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Der Kläger hat Differenzvergütungsansprüche erstmals mit Schreiben
vom 1. August 2008 geltend gemacht. Zur Höhe hat er sich auf die Auskünfte
der Entleiherin gestützt.
Der Kläger hat - soweit für die Revision von Interesse - beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 26.734,51 Euro brutto
abzüglich 4.336,00 Euro netto sowie weitere 919,60 Euro
brutto jeweils nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz seit dem 20.
November 2008
zu
zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Der Kläger habe die
Voraussetzungen der geltend gemachten Gehalts- und Entgeltgruppen nicht
erfüllt. Im Übrigen seien etwaige Ansprüche verfallen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Auf die
Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage bis auf
Differenzvergütungsansprüche für Mai und Juni 2008 sowie restliche Urlaubs-
abgeltung für 2008 in einer Gesamthöhe von 3.540,35 Euro nebst Zinsen
abgewiesen. Mit der allein für den Kläger zugelassenen Revision verfolgt dieser
seine bis Ende April 2008 entstandenen, in der Berufungsinstanz ab-
gewiesenen Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
A.
Die Revision des Klägers ist unzulässig, soweit sie sich gegen die
Abweisung der Klage auf Abgeltung von Resturlaub aus den Jahren 2005 und
2006 richtet. Es fehlt an der notwendigen Revisionsbegründung.
I.
Zur ordnungsgemäßen Begründung der Revision müssen die Re-
visionsgründe angegeben werden, § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 ZPO. Bei Sachrügen sind diejenigen Umstände bestimmt zu bezeichnen,
aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt, § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a
ZPO. Die Revisionsbegründung muss die Rechtsfehler des Landesarbeits-
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gerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs
erkennbar sind. Daher muss die Revisionsbegründung eine Auseinander-
setzung mit den Gründen des angefochtenen Urteils enthalten
.
II.
Diesen Anforderungen wird die Revisionsbegründung des Klägers
hinsichtlich des Urlaubsabgeltungsanspruchs nicht gerecht. Das Landes-
arbeitsgericht hat die Klage wegen der Befristung des gesetzlichen und tarif-
lichen Jahresurlaubsanspruchs gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG abgewiesen. Diese
Befristung sei auch im Rahmen des auf § 10 Abs. 4 AÜG gestützten Anspruchs
beachtlich. Die Revisionsbegründung zeigt insoweit keinen Rechtsfehler des
Landesarbeitsgerichts auf. Sie wendet lediglich ein, der Kläger mache einen
gesetzlichen Anspruch auf Gewährung der für einen vergleichbaren Arbeit-
nehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen geltend.
Warum dieser Anspruch, unabhängig von seiner Einordnung als gesetzlicher
oder vertraglicher Anspruch, nicht ebenso wie die Urlaubs- und Urlaubsab-
geltungsansprüche der Stammbelegschaft gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG, § 14 Ziff. 7
MTV befristet sein soll, führt der Kläger nicht aus.
B.
Die Revision des Klägers ist im Übrigen begründet. Sie führt zur Auf-
hebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das
Landesarbeitsgericht, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Das Landes-
arbeitsgericht hat die vom Kläger für die Zeit bis zum 30. April 2008 verfolgten
Ansprüche zu Unrecht als verfallen abgewiesen. Für eine abschließende
Entscheidung fehlt es an ausreichenden Feststellungen.
I.
Der Leiharbeitnehmer kann vom Verleiher gemäß § 10 Abs. 4 AÜG
während der Zeit der Überlassung an einen Entleiher die Gewährung der im
Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers
geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts
verlangen, wenn die vereinbarten Bedingungen nach § 9 Nr. 2 AÜG unwirksam
sind. Im Entleiherbetrieb geltende Ausschlussfristen gehören nicht zu den
wesentlichen Arbeitsbedingungen iSv. § 10 Abs. 4 AÜG.
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1.
Bereits aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich, dass § 10 Abs. 4 AÜG
nur solche Arbeitsbedingungen erfasst, die dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber
„gewährt“ werden. Dies können nur Leistungen des Arbeitgebers sein. Hierzu
gehören Ausschlussfristen nicht. Sie begründen keine Leistungen des Arbeit-
gebers an den Arbeitnehmer, sondern dienen dem Rechtsfrieden und der
Rechtssicherheit im Vertragsverhältnis. Ausschlussfristen begünstigen regel-
mäßig nicht den Arbeitnehmer, vielmehr sind sie geeignet, seine Ansprüche zu
beschneiden.
2.
Besonderes Gewicht kommt dem Gesetzesbegriff „Arbeitsbedingungen“
zu. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz unterscheidet Arbeitsbedingungen
von den Vertragsbedingungen und regelt so unterschiedliche Tatbestände. Im
Sinne dieses Gesetzes gehören Ausschlussfristen zu den Vertrags-
bedingungen, nicht aber zu den „geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen“,
auf die § 10 Abs. 4 AÜG abstellt.
a)
Ausschlussfristen regeln, wie und binnen welcher Zeit Ansprüche
gegen den Anspruchsgegner geltend gemacht werden müssen. Begehrt der
Leiharbeitnehmer von seinem Arbeitgeber die Erfüllung von Ansprüchen, zu
denen auch solche aus § 10 Abs. 4 AÜG gehören, muss er deshalb Aus-
schlussfristen beachten, die als „Vertragsbedingungen“ in seinem Vertragsver-
hältnis zum Verleiher gelten. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz unter-
scheidet diese „Vertragsbedingungen“ des Leiharbeitsvertrags von den
„Arbeitsbedingungen“, die in der Rechtssphäre des Entleihers zu den Stamm-
arbeitnehmern gelten. Diese Unterscheidung von Vertrags- und Arbeitsbe-
dingungen wird vom Gesetz in dem System der aufeinander abgestimmten
Informations-, Dokumentations- und Auskunftspflichten im Dreiecksverhältnis
Entleiher/Verleiher/Leiharbeitnehmer konsequent umgesetzt.
b) Die
„Vertragsbedingungen“ sind dem Leiharbeitnehmer als die in
seinem Vertragsverhältnis zum Verleiher geltenden Bedingungen gemäß § 11
Abs. 1 Satz 1 AÜG in Verbindung mit den Vorschriften des Nachweisgesetzes
nachzuweisen. Hierzu gehört auch eine in diesem Verhältnis geltende Aus-
schlussfrist
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. Eine
Pflicht des Verleihers, wesentliche „Arbeitsbedingungen“ des Entleiherbetriebs
nachzuweisen, ist im AÜG nicht normiert. § 11 Abs. 1 Satz 2 AÜG bestimmt
zwar ergänzende Nachweispflichten des Verleihers im Bereich der Arbeit-
nehmerüberlassung, diese betreffen aber wiederum nur das Vertragsverhältnis
zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer. Eine Verpflichtung zum Nachweis
beim Entleiher geltender „Vertragsbedingungen“ hätte in diesem Regelungs-
zusammenhang erfolgen müssen. § 11 Abs. 1 AÜG knüpft zudem an die
vorhergehende Fassung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AÜG idF vom 23. Juli 2002
, an. Diese Fassung enthielt noch einen ausformulierten
Katalog der nachzuweisenden Umstände, diese bezogen sich allein auf den
„Inhalt des Arbeitsverhältnisses“ zum Verleiher. Im Übrigen wäre eine Er-
streckung der Nachweispflicht auf wesentliche „Arbeitsbedingungen“ des
Entleiherbetriebs wenig praktikabel, weil wechselnde Einsätze des Leiharbeit-
nehmers zu ständig neuen Nachweisen führten.
c)
§ 12 Abs. 1 Satz 3 AÜG regelt Informations- und Dokumentations-
pflichten hinsichtlich der wesentlichen Arbeitsbedingungen des Entleiher-
betriebs ausschließlich für das Verhältnis zwischen Entleiher und Verleiher. Im
Verhältnis des Leiharbeitnehmers zum Entleiher begründet § 13 AÜG einen
Auskunftsanspruch des Leiharbeitnehmers über die „geltenden wesentlichen
Arbeitsbedingungen“ und verdeutlicht so, dass die Arbeitsbedingungen nicht mit
den zum Verleiher geltenden Vertragsbedingungen gleichzusetzen sind.
d)
Als „Arbeitsbedingungen“ bezeichnet das Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetz nicht nur im Zusammenhang mit Informations-, Dokumentations- und
Auskunftspflichten, sondern auch an anderer Stelle nur die beim Entleiher, also
einem außerhalb des Vertrags stehenden Dritten, geltenden Bedingungen
. Diese sind damit in allen
Regelungszusammenhängen von den „Vertragsbedingungen“ im Verhältnis
Verleiher/Leiharbeitnehmer zu unterscheiden. Dem entspricht auch die in § 15a
AÜG verwendete Terminologie. Diese Norm knüpft zwar an die „Arbeits-
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bedingungen“ des Leiharbeitsverhältnisses an, meint damit aber konsequent
die Bedingungen aus der Rechtssphäre eines Dritten, denn die Strafandrohung
richtet sich an den Entleiher.
e)
Die im AÜG vorgenommene Unterscheidung von Vertrags- und
Arbeitsbedingungen steht der Bestimmung der wesentlichen Arbeits-
bedingungen mittels eines Rückgriffs auf den in § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG
enthaltenen Katalog der wesentlichen Vertragsbedingungen entgegen
.
3.
Die unionsrechtskonforme Auslegung bestätigt, dass im Betrieb des
Entleihers geltende Ausschlussfristen nicht zu den wesentlichen Arbeitsbe-
dingungen iSd. § 10 Abs. 4 AÜG gehören.
a)
§ 9 Nr. 2 AÜG und § 10 Abs. 4 AÜG wurden durch Art. 6 Nr. 4 und Nr. 5
des Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom
23. Dezember 2002 mit Wirkung zum 1. Januar 2003 ein-
geführt. Zwar war bereits in § 10 Abs. 5 AÜG idF des Job-AQTIV-Gesetzes vom
10. Dezember 2001 für den Fall der längerfristigen Über-
lassung eine ähnliche Pflicht zur Gleichbehandlung vorgesehen, erstmals § 10
Abs. 4 AÜG idF vom 23. Dezember 2002 normierte jedoch die grundsätzliche
Verpflichtung des Verleihers, einem Leiharbeitnehmer die im Betrieb des
Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer geltenden besseren wesent-
lichen Arbeitsbedingungen zu gewähren. Aus der Gesetzesbegründung zu § 3
Abs. 1 Nr. 3 AÜG idF vom 23. Dezember 2002 wird deutlich, dass damit der
Schutz der Leiharbeitnehmer verstärkt werden sollte. Leiharbeitnehmer sollten
grundsätzlich nicht schlechter als vergleichbare Stammarbeitnehmer des
Entleihers behandelt werden dürfen. In diesem Bereich sollte der Grundsatz
„gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gelten . Doch
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wurde eine Konkretisierung des Rechtsbegriffs „wesentliche Arbeits-
bedingungen“ sowohl bei § 10 Abs. 5 AÜG aF als auch bei § 10 Abs. 4 AÜG
unterlassen. Zur gleichen Zeit wurde der Entwurf einer Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über die Arbeitsbedingungen von
Leiharbeitnehmern vom 20. März 2002
veröffentlicht, dem am
28. November 2002 ein geänderter Vorschlag folgte.
Bereits diese zeitliche Parallelität der gemeinschaftsrechtlichen und nationalen
Normsetzung spricht für ein deckungsgleiches Verständnis des in beiden
Normentwürfen verwendeten Rechtsbegriffs der „geltenden wesentlichen
Arbeitsbedingungen“. Beide Richtlinienvorschläge verfolgten - wie das AÜG -
den Zweck, die Schlechterstellung der Leiharbeitnehmer gegenüber den
vergleichbaren Arbeitnehmern des Entleiherbetriebs hinsichtlich der wesent-
lichen Arbeitsbedingungen zu verhindern
. Dabei zeichneten sich die Richtlinienentwürfe durch
Begriffserläuterungen im Normtext aus. Bereits Art. 3 Abs. 1 Buchst. d des
ersten Richtlinienentwurfs definierte als wesentliche Arbeits- und Be-
schäftigungsbedingungen bestimmte Arbeitszeitregelungen, bezahlten Urlaub,
Arbeitsentgelt, Arbeitsschutzvorschriften sowie Diskriminierungsverbote.
Die Terminologie des AÜG und die dazu vorliegenden Gesetzes-
materialien bestätigen diesen Befund. So fällt besonders auf, dass ausdrücklich
- in Abweichung zu § 10 Abs. 5 AÜG aF und gerade im Einklang mit dem
Richtlinienentwurf - das eingrenzende Adjektiv der „wesentlichen“ Arbeits-
bedingungen aufgenommen wurde. Wenn die Gesetzesbegründung unter den
zu gewährenden Arbeitsbedingungen „alle nach dem allgemeinen Arbeitsrecht
vereinbarten Bedingungen, wie Dauer der Arbeitszeit und des Urlaubs oder die
Nutzung sozialer Einrichtungen“ versteht , stimmt
bereits dieses Begriffsverständnis - nicht zuletzt wegen des auffälligen Hin-
weises auf die Sozialeinrichtungen - mit dem des Richtlinienvorschlags überein
.
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b)
Jedenfalls ist die am 5. Dezember 2008 in Kraft getretene Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leih-
arbeit , die nach Art. 11
Abs.
1 RL bis spätestens 5.
Dezember 2011 umzusetzen ist, bei der
unionsrechtskonformen Auslegung der „geltenden wesentlichen Arbeits-
bedingungen“ zu berücksichtigen.
aa)
Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Mitgliedstaaten gemäß
Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet, bereits vor Ablauf der
Umsetzungsfrist einer in Kraft getretenen Richtlinie keine Tatsachen zu
schaffen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernsthaft
in Frage zu stellen. Dieses sog. „Frustrationsverbot“ verbietet die Schaffung
richtlinienwidriger Rechtsnormen während der Umsetzungsfrist
. Darüber hinaus müssen es die Gerichte der Mitgliedstaaten so weit wie
möglich unterlassen, das innerstaatliche Recht in einer Weise auszulegen, die
die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Zieles nach Ablauf der
Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde. Das gesamte nationale Recht ist
deshalb „im Licht des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen“,
unabhängig davon, ob es vor oder nach Erlass der Richtlinie erlassen wurde
.
bb)
Die wesentlichen „Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ sind in
Art. 3 Abs. 1 Buchst. f RL definiert. Es sind die Arbeitszeit und das Arbeits-
entgelt. Darüber hinaus sieht Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 2 RL eine Verpflichtung
des Entleihers vor, die in seinem Unternehmen geltenden
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Regeln bezüglich Schwangerer, Kinder und Jugendlicher und die im nationalen
Recht in § 1 AGG genannten Diskriminierungsverbote zu beachten. Schließlich
hat der Entleiher nach Art. 6 Abs. 4 RL Zugang zu den
Gemeinschaftseinrichtungen zu gewähren. Damit unterscheidet die Richtlinie
- im Gegensatz zu den vorhergehenden Richtlinienentwürfen - zwischen den
Pflichten des Entleihers und denen des Verleihers. Ausschlussfristen erwähnt
die Richtlinie - ebenso wie die Richtlinienentwürfe - an keiner Stelle.
cc)
Die Aufzählung der wesentlichen Arbeitsbedingungen in Art. 3 Abs. 1
Buchst.
f, i, ii, Art.
5 Abs.
1 Unterabs.
2 Buchst.
a RL ist abschließend.
Hinsichtlich der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f RL genannten Regelungsgegenstände
folgt dies aus dem Wortlaut, wonach sich die vom Verleiher zu gewährenden
Arbeitsbedingungen „auf folgende Punkte beziehen“ müssen, die sodann
einzeln aufgeführt sind. Art. 3 Abs. 2 RL ermöglicht zudem nur nationale
Regelungen im Hinblick auf die Begriffsbestimmungen Arbeitsentgelt, Arbeits-
vertrag, Beschäftigungsverhältnis oder Arbeitnehmer. Die genannten
Regelungsgegenstände sind nicht nur Regelbeispiele, die Aufzählung begrenzt
vielmehr den von der Richtlinie nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung
gemäß Art. 5 Abs. 1 RL geforderten Mindeststandard zugunsten des Leih-
arbeitnehmers
.Allerdings ermöglicht Art. 9 Abs. 1 RL dem
nationalen Gesetzgeber, zugunsten der Arbeitnehmer von Vorschriften der
Richtlinie abzuweichen.
dd)
Vor diesem Hintergrund sind als Arbeitsbedingungen iSv. § 9 Nr. 2,
§
10 Abs.
4 AÜG ausschließlich die in der RL explizit bezeichneten
Regelungsmaterien anzusehen, denn von einer Erweiterung hat der deutsche
Gesetzgeber abgesehen. Vielmehr sprechen auch die Gesetzesmaterialien zu
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§ 10 Abs. 4 AÜG nur Arbeitsbedingungen an, die im jeweiligen Richtlinienent-
wurf bzw. der verabschiedeten Richtlinie ausdrücklich benannt wurden oder
werden. Ausschlussfristen werden als zu gewährende Arbeitsbedingungen an
keiner Stelle genannt. Damit scheidet - nach derzeitiger Rechtslage - auch ein
Günstigkeitsvergleich der im Entleiherbetrieb einerseits und im Vertragsverhält-
nis zum Verleiher andererseits geltenden Ausschlussfristen aus
. Es bleibt vielmehr bei den als Vertragsbedingung mit dem Ver-
leiher vereinbarten oder kraft Tarifbindung geltenden Ausschlussfristen. Gilt in
diesem Verhältnis mangels Tarifbindung oder Vereinbarung keine Ausschluss-
frist, ist eine solche vom Leiharbeitnehmer auch nicht zu beachten.
4.
Gegen die Anwendung der im Entleiherbetrieb geltenden Ausschluss-
fristen auf Ansprüche aus § 10 Abs. 4 AÜG spricht des Weiteren der Zweck des
in § 9 Nr. 2, § 10 Abs. 4 AÜG normierten Schlechterstellungsverbots. Aufgabe
des § 10 Abs. 4 AÜG ist es, einen Mindestschutz zu schaffen, wie er den Zielen
anders als die in der Gesetzesbegründung und in der RL genannten
Regelungsmaterien nicht der Gewährleistung wirtschaftlicher Mindest-
bedingungen für Leiharbeitnehmer, sondern würden die Leiharbeitnehmer
regelmäßig belasten.
5.
Ausschlussfristen sind kein integraler Bestandteil der wesentlichen
Arbeitsbedingung „Arbeitsentgelt“. Sie betreffen ausschließlich die Art und
Weise der Geltendmachung eines entstandenen Entgeltanspruchs
.Soweit der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts
in der vom Landesarbeitsgericht zitierten Entscheidung vom 5. April 1984
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noch die Auffassung
vertreten hat, dass zum Inhalt eines Rechts auch die durch eine Ausschlussfrist
vermittelte Dauer gehöre, ist er hiervon in seiner späteren Rechtsprechung
abgerückt
.
II.
Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeits-
gerichts lassen sich die Ansprüche des Klägers aus § 10 Abs. 4 AÜG nicht
bestimmen. Ob und in welcher Höhe der Kläger für die Zeit bis einschließlich
April 2008 Differenzvergütung verlangen kann, ist vom Landesarbeitsgericht
aufzuklären.
1.
Die vom Kläger geltend gemachten Zahlungsansprüche betreffen das
Arbeitsentgelt iSv. § 10 Abs. 4 AÜG. Hierunter fallen nicht nur das laufende
Entgelt, sondern auch alle Zuschläge und Zulagen, Ansprüche auf Entgeltfort-
zahlung sowie weitere Vergütungsbestandteile. Der Begriff des Arbeitsentgelts
ist weit zu verstehen.
2.
Ausgehend vom Erwägungsgrund 14 RL muss das Arbeitsentgelt des
Leiharbeitnehmers mindestens demjenigen entsprechen, das für ihn gelten
würde, wenn er vom Entleiher für die gleiche Arbeitsaufgabe eingestellt worden
wäre.
a)
Der Anspruch auf Gewährung gleicher Arbeitsbedingungen gemäß § 10
Abs. 4, § 9 Nr. 2 AÜG besteht während der Dauer der Überlassung, dh. dem
Zeitraum, während dessen der Leiharbeitnehmer dem entleihenden Unter-
nehmen zur Verfügung gestellt wird, um dort unter dessen Aufsicht und Leitung
vorübergehend zu arbeiten. Damit ist ein Gesamtvergleich der Entgelte im
Überlassungszeitraum anzustellen
. Im Streitfall sind dies die Zeiträume
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25. Oktober 2005 bis 31. Mai 2006 und 1. August 2006 bis 30. Juni 2008. In
den Gesamtvergleich sind damit die bereits vom Landesarbeitsgericht rechts-
kräftig zugesprochenen Beträge für die Monate Mai und Juni 2008 sowie
sämtliche dem Kläger zugeflossenen Sonderzahlungen, Prämien und Miet-
zuschüsse einzustellen.
b)
Zur Bestimmung der Höhe des Anspruchs aus § 10 Abs. 4 AÜG kann
der Leiharbeitnehmer zwar zunächst auf die ihm nach § 13 AÜG erteilten
Auskünfte Bezug nehmen
.Bestreitet der Verleiher die maß-
geblichen Umstände der Auskunft jedoch in erheblicher Art und im Einzelnen,
bleibt es bei dem Grundsatz, dass der Anspruchsteller die anspruchs-
begründenden Tatsachen darlegen und beweisen muss. Nach der für die
Entleiherin erteilten Auskünfte des Bayerischen Unternehmensverbandes Metall
und Elektro e.
V. leistete die Entleiherin im Überlassungszeitraum ihren
vergleichbaren Arbeitnehmern eine Vergütung nach Maßgabe der Tarifverträge
der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie. Abweichend von der Auffassung
des Landesarbeitsgerichts folgt hieraus kein Anspruch des Klägers auf eine
übertarifliche Vergütung, denn eine solche zahlt die tarifgebundene Entleiherin
nach ihrer eigenen Auskunft nicht. Somit hat das Landesarbeitsgericht die
tarifgerechte Eingruppierung und Vergütung der vergleichbaren Arbeitnehmer
unter Einbeziehung der Qualifikation, Tätigkeit, Berufserfahrung und Be-
schäftigungsdauer festzustellen. Das Landesarbeitsgericht wird deshalb zu
klären haben, ob Arbeitnehmern mit vergleichbarer Tätigkeit und Qualifikation
bis 31. März 2007 Vergütung nach Gehaltsgruppe SBA VI 1 und ab 1. April
2007 nach Entgeltgruppe 11 des ERA zustand. Die Beklagte hat zwar zuletzt
nicht mehr bestritten, dass der Kläger über die nach diesen Gehalts- und
Entgeltgruppen erforderliche subjektive Qualifikation verfügt, sie hat jedoch im
Einzelnen dargelegt, dass der Kläger keine der in der Gehalts- und Entgelt-
gruppe geforderten Tätigkeiten verrichtet habe. Bei seiner Entscheidung hat
das Landesarbeitsgericht weiter zu berücksichtigen, dass sich die tarifliche
Vergütung als Gegenleistung auf das tariflich geschuldete Arbeitszeitvolumen
von 35
Wochenstunden bezieht und der Kläger eine Arbeitszeit von
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40 Wochenstunden zu erbringen hatte. Überstunden sind nach den bei der
Entleiherin geltenden Regeln zu vergüten. Darüber hinaus ist konkret zu er-
mitteln, nach welchen Kriterien die Entleiherin im Klagezeitraum Leistungs-
zulagen erbracht hat und ob sie dem Kläger bei einem unmittelbar zu ihr be-
gründeten Arbeitsverhältnis eine Leistungszulage gewährt hätte. Ggf. ist eine
notwendige Leistungsbeurteilung nachzuholen, die nicht durch Zitate aus dem
von der Beklagten erteilten Zeugnis ersetzt werden kann.
C.
Das Landesarbeitsgericht hat über die Kosten der Revision zu ent-
scheiden.
Müller-Glöge
Laux Biebl
Haas
Zorn
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