Urteil des BAG vom 16.04.2014

Aussetzung - Verfassungsbeschwerde

BUNDESARBEITSGERICHT Beschluss vom 16.4.2014, 10 AZB
6/14
Aussetzung - Verfassungsbeschwerde
Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluss
des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 29. Januar 2014
- 4 Ta 248/13 (9) - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des
Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 8.137,02 Euro festgesetzt.
Gründe
1 I. Die Parteien streiten im Ausgangsverfahren über Annahmeverzugsansprüche der
Klägerin für die Monate Juni 2012 bis Mai 2013 in Höhe von 60.000,00 Euro brutto
abzüglich gezahlten Arbeitslosengeldes in Höhe von 19.314,90 Euro.
2 Die Beklagte hatte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch
ordentliche verhaltensbedingte Kündigung vom 23. April 2012 zum 31. Mai 2012
gekündigt. Mit Urteil vom 5. Dezember 2012 hat das Arbeitsgericht Dresden der hiergegen
gerichteten Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die von der Beklagten eingelegte
Berufung ist durch das Sächsische Landesarbeitsgericht durch Beschluss vom 5. April
2013 (- 6 Sa 13/13 -) ohne Zulassung der Revisionsbeschwerde als unzulässig verworfen
worden. Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge wies das Sächsische
Landesarbeitsgericht mit Beschluss vom 11. Juni 2013 (- 6 Sa 265/13 -) zurück. Die
Beklagte erhob daraufhin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts und die Beschlüsse des
Sächsischen Landesarbeitsgerichts beim Bundesverfassungsgericht
Verfassungsbeschwerde (- 1 BvR 1954/13 -), über die noch nicht entschieden ist.
3 Mit Beschluss vom 27. September 2013 hat das Arbeitsgericht Dresden den Rechtsstreit
auf Antrag der Beklagten gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung über die
Verfassungsbeschwerde ausgesetzt. Auf die sofortige Beschwerde der Klägerin hat das
Sächsische Landesarbeitsgericht durch Beschluss vom 29. Januar 2014 diese
Entscheidung aufgehoben und den Aussetzungsantrag zurückgewiesen. Mit ihrer vom
Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt die Beklagte die
Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
4 II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht nimmt im
Ergebnis zutreffend an, dass eine Aussetzung des Rechtsstreits im Hinblick auf die
erhobene Verfassungsbeschwerde nicht in Betracht kommt.
5 1. Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder
teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das
den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die
Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Das Gesetz
stellt die Aussetzung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts. Eine Aussetzung muss
nur dann erfolgen, wenn sich das Ermessen des Gerichts auf null reduziert hat (BAG
17. Juni 2003 - 2 AZR 245/02 - zu B II 2 a der Gründe, BAGE 106, 293). Gegenüber dem
vorrangigen Zweck einer Aussetzung - einander widersprechende Entscheidungen zu
verhindern - sind insbesondere die Nachteile einer langen Verfahrensdauer und die dabei
entstehenden Folgen für die Parteien abzuwägen (BAG 17. Juni 2003 - 2 AZR 245/02 - zu
B II 2 c der Gründe, aaO). Dabei ist der Beschleunigungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 ArbGG
ebenso zu berücksichtigen wie die Vorschriften zum Schutz vor überlanger
Verfahrensdauer (§ 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 198 ff. GVG).
6 2. Es kann dahinstehen, ob die Auffassung des Landesarbeitsgerichts zutrifft, wonach es
wegen der rechtskräftigen Entscheidung des Arbeitsgerichts Dresden über die Kündigung
bereits an einem vorgreiflichen Rechtsverhältnis, das Gegenstand eines anhängigen
Rechtsstreits ist, fehlt.
7 a) Das Landesarbeitsgericht nimmt insoweit zutreffend an, dass die Entscheidung des
Arbeitsgerichts Dresden nach Verwerfung der Berufung der Beklagten als unzulässig
(§ 66 Abs. 2 Satz 2 ArbGG iVm. § 522 Abs. 1 ZPO) und (spätestens) nach der
Entscheidung über deren Anhörungsrüge (§ 78a ArbGG) rechtskräftig geworden ist.
Hieran ändert die erhobene Verfassungsbeschwerde nichts. Bei ihr handelt es sich um
einen außerordentlichen Rechtsbehelf, der die Rechtskraft des angegriffenen Urteils nicht
hemmt und die Pflicht des Unterlegenen, das Urteil zu befolgen, nicht beseitigt (BVerfG
30. April 2003 - 1 PBvU 1/02 - zu C III 2 a aa der Gründe, BVerfGE 107, 395; 18. Januar
1996 - 1 BvR 2116/94 - zu B der Gründe, BVerfGE 93, 381). Damit steht (zunächst)
rechtskräftig fest, dass die Kündigung vom 23. April 2012 unwirksam war.
8 b) Kommt allerdings das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der erhobenen
Verfassungsbeschwerde zu dem Ergebnis, dass das Recht der Beklagten auf Gewährung
rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt wurde und hebt es die Beschlüsse des
Landesarbeitsgerichts gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG auf, stünde die Wirksamkeit der
Kündigung erneut im Streit. Deshalb spricht manches dafür, dass trotz des anderen
Streitgegenstandes der Verfassungsbeschwerde (vgl. dazu Zuck Das Recht der
Verfassungsbeschwerde 4. Aufl. Rn. 19) die Annahme des Bestehens eines vorgreiflichen
Rechtsstreits und eine entsprechende Anwendung des § 148 ZPO im Einzelfall nicht
ausgeschlossen sind (vgl. zu dieser Möglichkeit: BVerfG 11. Januar 2000 - 1 BvR
1392/99 - zu II 2 der Gründe; BAG 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - zu II 3 a der Gründe;
BGH 17. Juli 2013 - IV ZR 150/12 - [jeweils zu anhängigen Verfassungsbeschwerden über
ein entscheidungserhebliches Gesetz]; BAG 27. Januar 1998 - 3 AZR 430/96 - zu A der
Gründe [zu Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen in Parallelfällen]).
9 3. Unabhängig hiervon ist die angegriffene Entscheidung nicht zu beanstanden. Das
Arbeitsgericht durfte den Rechtsstreit über die von der Klägerin geltend gemachten
Vergütungsansprüche (§ 615 BGB) nicht aussetzen. Auch unter Berücksichtigung der -
was die Ermessensausübung angeht - eingeschränkten Überprüfungskompetenz im
Beschwerderechtszug (vgl. dazu BAG 26. Oktober 2009 - 3 AZB 24/09 - Rn. 7 ff.; BGH
12. Dezember 2005 - II ZB 30/04 - Rn. 6) hält die Entscheidung des Arbeitsgerichts einer
Überprüfung nicht stand. Es hat die Grenzen seines Ermessens deutlich überschritten und
wesentliche Aspekte verkannt.
10 a) Die Vorgreiflichkeit eines Rechtsstreits ist kein Ermessenskriterium, sondern eine
Voraussetzung des § 148 ZPO, die erfüllt sein muss, damit das Ermessen des Gerichts
überhaupt eröffnet ist (BVerfG 22. September 2008 - 1 BvR 1707/08 - Rn. 19, BVerfGK 14,
270).
11 b) Führen Parteien einen Rechtsstreit über Entgeltansprüche, die von der Wirksamkeit
einer Kündigung abhängen, über die bereits eine (nicht rechtskräftige) Entscheidung
zugunsten des Arbeitnehmers vorliegt, kommt eine Aussetzung dieses Rechtsstreits
regelmäßig nicht in Betracht. Dem steht der Umstand entgegen, dass der Arbeitnehmer
typischerweise auf seine Vergütung angewiesen ist und sich nicht auf die
Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweisen lassen muss, wenn ein
Vergütungsanspruch gegen den Arbeitgeber besteht. Der arbeitsrechtliche
Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1 ArbGG) verbietet in solchen Fällen regelmäßig,
eine Aussetzung vorzunehmen (vgl. zB LAG Köln 19. Juni 2006 - 3 Ta 60/06 -; LAG
Schleswig-Holstein 24. November 2006 - 2 Ta 268/06 -; Hessisches LAG 3. Juli 2002 -
12 Ta 213/02 -; Thüringer LAG 27. Juni 2001 - 6/9 Ta 160/00 -; Düwell/Lipke/Kloppenburg
ArbGG 3. Aufl. § 55 Rn. 25; GK-ArbGG/Schütz Stand Dezember 2013 § 55 Rn. 48;
GMP/Germelmann ArbGG 8. Aufl. § 55 Rn. 29; Schwab/Weth/Korinth ArbGG 3. Aufl. § 55
Rn. 43; vgl. auch BVerfG 22. September 2008 - 1 BvR 1707/08 - Rn. 20, BVerfGK 14, 270).
Für eine ermessensfehlerfreie Aussetzungsentscheidung müssen in einem solchen Fall
besondere Gründe des Einzelfalls vorliegen, die das schützenswerte Interesse des
Arbeitnehmers an einer auch vorläufigen Existenzsicherung ausnahmsweise überwiegen
(LAG Köln 14. Dezember 1992 - 11 Ta 234/92 -). Der Gesichtspunkt der
Prozesswirtschaftlichkeit, nämlich den Rechtsstreit über die Vergütung ggf. deutlich zu
vereinfachen, kann dabei keine Rolle spielen. Diese Erwägungen gelten erst recht, wenn
das zunächst vorgreifliche Verfahren über die Wirksamkeit einer Kündigung rechtskräftig
abgeschlossen und lediglich ein außerordentlicher Rechtsbehelf eingelegt ist. Solche
besonderen Gründe hat das Arbeitsgericht weder erwogen noch hat die Beklagte diese
vorgetragen. Sie hat sich vielmehr ausschließlich auf die Vorgreiflichkeit ihrer
Verfassungsbeschwerde berufen. Allein die Gefahr widersprechender Entscheidungen bei
einem Erfolg der Verfassungsbeschwerde und einem Erfolg der Beklagten im dann
fortzusetzenden Kündigungsschutzprozess führt zu keinem anderen Ergebnis. Die
Arbeitgeberin bleibt auch im Fall einer Ablehnung der Aussetzung nicht schutzlos. Sollte
es nach einem Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerde im Ergebnis zur Abweisung der
Kündigungsschutzklage kommen, stünde ihr, falls der Vergütungsklage rechtskräftig
stattgegeben worden ist, die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 6 ZPO zur Verfügung (vgl.
BAG 7. November 2002 - 2 AZR 297/01 - zu B I 6 der Gründe, BAGE 103, 290; vgl. auch
BGH 23. November 2006 - IX ZR 141/04 - zu I 2 b der Gründe). Ob in Fällen, in denen
erkennbar eine Überschreitung der 5-Jahres-Frist des § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO droht,
etwas anderes gilt, kann dahinstehen. Dafür gibt es vorliegend keine Anhaltspunkte.
12 III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung beruht auf
§ 63 Abs. 2 GKG.
Mikosch Schmitz-Scholemann W. Reinfelder