Urteil des BAG vom 23.05.2013

Zustimmungsbescheid des Integrationsamts - keine aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 23.5.2013, 2 AZR 991/11
Zustimmungsbescheid des Integrationsamts - keine aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln
Leitsätze
Die durch das Integrationsamt erteilte Zustimmung zur Kündigung entfaltet - es sei denn, sie
wäre nichtig - für den Kündigungsschutzprozess solange Wirksamkeit, wie sie nicht bestands-
oder rechtskräftig aufgehoben worden ist.
Tenor
1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Köln vom 21. Juli 2011 - 7 Sa 1155/09 -
aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über
die Kosten der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.
2 Der Kläger war bei dem Beklagten seit 1992 als Elektriker beschäftigt. Er ist als
schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 60 anerkannt und war
Mitglied des für das Dezernat „Kultur/Umwelt“ gewählten Personalrats.
3 Am 24. April 2008 erschien in der örtlichen Presse ein Artikel unter der Überschrift „Chef
der Abtei … unter Verdacht - ‚ausgeprägte Selbstbedienungsmentalität’ in der Außenstelle
…“. Darin heißt es: „In der Schreinerei sollen Gartenmöbel für den Chef gebaut worden
sein, wie der ehemalige Personalvertreter … sagt.“ Auf Befragen des Beklagten räumte
der Kläger ein, sich gegenüber dem recherchierenden Journalisten entsprechend
geäußert zu haben.
4 Mit Datum vom 23. Mai 2008 beantragte der Beklagte beim Integrationsamt die
Zustimmung zu einer außerordentlichen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung des Klägers.
Diese wurde mit Bescheid vom 6. Juni 2008 erteilt. Am selben Tag kündigte der Beklagte
das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger nach Zustimmung von Personalrat und
Gesamtpersonalrat außerordentlich fristlos.
5 Der Kläger hat rechtzeitig die vorliegende Kündigungsschutzklage erhoben. Gegen den
Zustimmungsbescheid des Integrationsamts hat er Widerspruch eingelegt. Dieser wurde
vom Widerspruchsausschuss zurückgewiesen. Dagegen hat der Kläger Anfechtungsklage
vor dem Verwaltungsgericht erhoben. Mit Urteil vom 24. Juni 2010 hat dieses den
Bescheid des Integrationsamts in Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben. Das
Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zugelassen.
6 Der Kläger hat die Kündigung für unwirksam gehalten. Seine Auskünfte gegenüber der
Presse entsprächen der Wahrheit. Jahrelang seien in der Schreinerei mit Kenntnis und
Billigung des Leiters Möbel für Privatzwecke gebaut und verkauft worden. Der Leiter habe
durch Mitarbeiter des Beklagten auch die Privatwohnungen von Angehörigen renovieren
lassen. Im Übrigen habe es nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts an einem wirksamen
Zustimmungsbescheid des Integrationsamts gefehlt.
7 Der Kläger hat beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des
Beklagten vom 6. Juni 2008 nicht aufgelöst worden ist.
8 Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Der Kläger habe haltlose Vorwürfe
gegen Vorgesetzte erhoben und diese der Presse zugänglich gemacht. Er habe zudem
fünf - unberechtigte - anonyme Anzeigen zu seinen - des Beklagten - Lasten erstattet. Der
Zustimmungsbescheid des Integrationsamts sei inhaltlich nicht zu beanstanden und zu
keinem Zeitpunkt rechtskräftig aufgehoben worden.
9 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat den
Rechtsstreit mit Blick auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren zunächst ausgesetzt.
Nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts hat es das Verfahren fortgeführt und der
Klage stattgegeben. Mit seiner vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt
der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
10 Mit rechtskräftigem Urteil vom 28. Januar 2013 hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil
des Verwaltungsgerichts abgeändert und die Anfechtungsklage abgewiesen.
Entscheidungsgründe
11 Die Revision ist begründet. Auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen durfte das
Landesarbeitsgericht die außerordentliche Kündigung vom 6. Juni 2008 nicht als
unwirksam ansehen. Die Sache war zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das
Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Senat kann den
Rechtsstreit nicht abschließend entscheiden. Der relevante Sachverhalt ist noch nicht
hinreichend festgestellt (§ 563 Abs. 3 ZPO).
12 A. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Kündigung sei unwirksam, weil im
Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung eine wirksame Zustimmung des
Integrationsamts nicht (mehr) vorgelegen habe. Dem stehe nicht entgegen, dass die den
Zustimmungsbescheid aufhebende Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch nicht
rechtskräftig gewesen sei. Sie habe die Wirkung des Bescheids jedenfalls zunächst
beseitigt. Eine Fortdauer der Aussetzung des vorliegenden Rechtsstreits sei dem Kläger
wegen des im arbeitsgerichtlichen Verfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatzes
nicht zumutbar gewesen. Der Beklagte sei für den Fall eines ihm günstigen Ausgangs des
verwaltungsgerichtlichen Verfahrens durch die Möglichkeit der Restitutionsklage
hinreichend geschützt.
13 B. Das hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
14 I. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ergibt bereits deshalb eine
Rechtsverletzung iSv. § 561 ZPO, weil aufgrund des Urteils des Oberverwaltungsgerichts
inzwischen rechtskräftig feststeht, dass das Integrationsamt der Kündigung zustimmen
durfte. Der Klage kann deshalb jedenfalls mittlerweile nicht (mehr) mit der Begründung
stattgegeben werden, ein wirksamer Zustimmungsbescheid habe nicht vorgelegen.
15 1. Zwar sind neue Tatsachen in der Revisionsinstanz grundsätzlich nicht zu
berücksichtigen. Abweichendes gilt jedoch, wenn andernfalls ein Grund für die
Wiederaufnahme des Verfahrens gegeben wäre (vgl. BAG 16. Mai 2002 - 2 AZR 730/00 -
zu B II 2 a cc der Gründe, BAGE 101, 138; 15. Mai 1997 - 2 AZR 43/96 - zu IV der Gründe,
BAGE 86, 7). Das Revisionsgericht darf nicht sehenden Auges ein Urteil erlassen, das
alsbald durch eine Restitutionsklage wieder beseitigt würde (GMP/Müller-Glöge 8. Aufl.
§ 74 Rn. 117).
16 2. So liegt es hier. Würde der Senat die angefochtene Entscheidung mit der vom
Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung, dh. ohne Berücksichtigung des mittlerweile
ergangenen Urteils des Oberverwaltungsgerichts bestätigen, wäre das Verfahren auf
Antrag des Beklagten nach § 580 Nr. 6 ZPO wieder aufzunehmen.
17 II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts erweist sich auch ungeachtet dieses nach
Abschluss des Berufungsverfahrens eingetretenen Umstands als rechtsfehlerhaft.
18 1. Gemäß § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines
schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des
Integrationsamts. Das gilt nach § 91 Abs. 1 SGB IX uneingeschränkt auch für die
außerordentliche Kündigung. Eine ohne wirksame Zustimmung ausgesprochene
Kündigung ist nach § 134 BGB nichtig (BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 703/09 - Rn. 14).
19 2. Im Streitfall hatte das Integrationsamt die erforderliche Zustimmung vor Abgabe der
Kündigungserklärung erteilt. Dem Beklagten war damit die Kündigung des
Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger gestattet. Diese Wirkung des Zustimmungsbescheids
ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht - auch nicht vorübergehend -
dadurch entfallen, dass das Verwaltungsgericht den Bescheid aufgehoben hat.
20 a) Zu Recht ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, die Gerichte für
Arbeitssachen seien bezogen auf die Wirksamkeit der Zustimmung an die
Entscheidungen von Verwaltung und Verwaltungsgerichten gebunden. Das Gesetz sieht
für den Fall der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen eine Aufspaltung des
Rechtswegs vor. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Zustimmungsbescheids sind
danach ausschließlich die Verwaltungsgerichte zuständig. Die Arbeitsgerichte sind nicht
befugt, deren Entscheidungen rechtlich zu überprüfen (KR/Etzel/Gallner 10. Aufl. §§ 85-90
SGB IX Rn. 125; GK-SGB IX/Lampe § 88 Rn. 103).
21 b) Rechtsfehlerhaft hat das Landesarbeitsgericht aber angenommen, auch die noch nicht
rechtskräftige Aufhebung des Zustimmungsbescheids des Integrationsamts durch ein
Verwaltungsgericht entfalte Bindungswirkung im arbeitsgerichtlichen Verfahren.
22 aa) Gemäß § 88 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die
Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung. Das bedeutet, dass die
durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung - vorbehaltlich ihrer
Nichtigkeit - so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist (LPK-
SGB IX/Düwell 3. Aufl. § 88 Rn. 28; Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl.
§ 85 Rn. 80).
23 bb) Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheids
die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung
vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die
betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist (KR/Etzel/Gallner 10. Aufl.
§§ 85-90 SGB IX Rn. 107; Schaub/Koch ArbR-Hdb. 14. Aufl. § 179 Rn. 45).
24 (1) Die Regelung des § 88 Abs. 4 SGB IX will verhindern, dass der Arbeitnehmer durch die
Einlegung von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses für oft längere Zeit auch in den Fällen erzwingen kann, in denen er
ohne Zusammenhang mit der Behinderung einen Grund zur Kündigung gegeben hat (BT-
Drucks. 7/656, S. 44). Nach der Wertung des Gesetzgebers ist es dem Arbeitgeber bei
einmal erteilter Zustimmung nicht zumutbar, für die (weitere) Dauer des
verwaltungsrechtlichen Widerspruchs- und Anfechtungsverfahrens von einer Kündigung
abzusehen. Etwas anderes gilt erst mit der rechtskräftigen Aufhebung des
Zustimmungsbescheids. In diesem Fall wird eine aufgrund der zunächst erteilten
Zustimmung ausgesprochene Kündigung rückwirkend unwirksam (BAG 15. Mai 1986 -
2 AZR 497/85 - zu B II 3 b der Gründe). Sollte bis dahin die Kündigungsschutzklage
bereits rechtskräftig abgewiesen worden sein, ist das Kündigungsschutzverfahren auf
Antrag des Arbeitnehmers in entsprechender Anwendung von § 580 Nr. 6 ZPO wieder
aufzunehmen (BAG 29. September 2011 - 2 AZR 674/10 - Rn. 33; KR/Etzel/Gallner
10. Aufl. §§ 85-90 SGB IX Rn. 144; Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl.
§ 85 Rn. 22; Hauck/Noftz/Griebeling SGB IX § 85 Rn. 39a; Schaub/Koch ArbR-Hdb.
14. Aufl. § 179 Rn. 49).
25 (2) Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts findet in der gesetzlichen Regelung keine
Stütze. Zwar schließt § 88 Abs. 4 SGB IX die aufschiebende Wirkung ausdrücklich nur für
„Widerspruch und Anfechtungsklage“ aus. Unter der „Anfechtungsklage“ ist jedoch nicht
nur der Rechtszug erster Instanz, sondern sind auch die gesetzlich vorgesehenen
Rechtsmittelverfahren zu verstehen (Deinert/Neumann/Braasch SGB IX 2. Aufl. § 19
Rn. 244).
26 (a) Dieses Verständnis folgt schon aus dem Wortsinn. Die „Anfechtungsklage“ ist nicht
bereits mit Ende der ersten Instanz erledigt. Auch im ggf. zweiten und dritten Rechtszug ist
weiterhin „Anfechtungsklage“ erhoben, solange sie rechtshängig ist. Dies gilt unabhängig
davon, wie die jeweilige Vorinstanz über sie entschieden hat. § 80b VwGO bestätigt diese
Lesart. Dort heißt es, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ende nach einer
bestimmten Frist, wenn „die Anfechtungsklage im ersten Rechtszug abgewiesen worden
ist“. Das impliziert ein Begriffsverständnis, demzufolge ggf. auch im zweiten und dritten
Rechtszug noch über „die Anfechtungsklage“ entschieden wird.
27 (b) Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift gebietet ebenfalls ein solches Verständnis.
§ 18 Abs. 5 SchwbG sah in seiner bis zum 31. Juli 1986 geltenden Fassung bei der
außerordentlichen Kündigung den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von
„Rechtsmitteln“ vor. Diese Regelung wurde in § 18 Abs. 4 SchwbG 1986 und später in
§ 88 Abs. 4 SGB IX mit der Änderung übernommen, dass die aufschiebende Wirkung auch
bei einer ordentlichen Kündigung entfallen sollte (vgl. BT-Drucks. 10/3138, S. 21). Dafür,
dass der Gesetzgeber mit der zugleich erfolgten Ersetzung des Begriffs „Rechtsmittel“
durch die präzisere Formulierung „Widerspruch und Anfechtungsklage“ eine zeitliche
Beschränkung des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung auf die Dauer der
Anfechtungsklage in erster Instanz beabsichtigt hätte, gibt es keinen Anhaltspunkt.
28 (c) Die gegenteilige Ansicht widerspricht überdies Sinn und Zweck der Regelung. Ihr
zufolge wären die Gerichte für Arbeitssachen nach einem erstinstanzlichen Erfolg der
Anfechtungsklage auch bei Vorliegen eines Kündigungsgrundes gehalten, auf die
Unwirksamkeit der Kündigung zu erkennen. Der Arbeitnehmer könnte damit entgegen der
gesetzlichen Intention die vorläufige Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erzwingen,
obwohl die Kündigung behördlich zugelassen worden und das verwaltungsgerichtliche
Anfechtungsverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Auch wären die Gerichte
für Arbeitssachen gezwungen, innerhalb ihres Instanzenzugs selbst bei übereinstimmend
angenommenem Vorliegen eines Kündigungsgrundes unterschiedliche Entscheidungen
zu treffen, wenn mittlerweile ein Verwaltungsgericht anders als die Behörde und/oder die
gerichtliche Vorinstanz geurteilt hätte, ohne dass dessen Entscheidung in Rechtskraft
erwachsen wäre. Dies entspricht nicht dem Grundsatz der Unabhängigkeit der
Gerichtszweige und schon aus Kostengründen nicht den wohlverstandenen Interessen der
Parteien. Auch das prozessuale Beschleunigungsgebot verlangt danach, dass die
Gerichte für Arbeitssachen bei behördlich erteilter Zustimmung zur Kündigung den
Kündigungsrechtsstreit der Parteien ohne Rücksicht auf den Fortgang des
verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nach Maßgabe der einschlägigen arbeitsrechtlichen
Vorschriften entscheiden und - falls es darauf ankommt - erst auf eine rechtskräftige
Versagung der Zustimmung Bedacht zu nehmen haben. Dementsprechend ist eine
Aussetzung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens für die Dauer des
Verwaltungsrechtsstreits in der Regel nicht angezeigt (BAG 2. März 2006 - 2 AZR 53/05 -
zu B V der Gründe).
29 C. Die Sache war an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Sie ist nicht
entscheidungsreif. Das Landesarbeitsgericht hat - aus seiner Sicht folgerichtig - nicht
geprüft, ob ein wichtiger Grund für die Kündigung gegeben war. Der Senat kann dies
mangels der erforderlichen Feststellungen nicht selbst beurteilen.
Kreft
Berger
Rinck
Beckerle
Torsten Falke