martina heck

06.03.2015

Entziehung von Waren aus zollamtlicher Überwachung ohne Versand

Der Begriff der Entziehung aus zollamtlicher Überwachung i.S. des Art. 203 Abs. 1 ZK ist so zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde, sei es auch nur zeitweise, am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird. Dafür reicht es, wenn die Ware etwaigen zollamtlichen Überprüfungen objektiv entzogen wurde, unabhängig davon, ob diese von der zuständigen Behörde tatsächlich vorgenommen worden wären, so der Bundesfinanzhof in einer aktuellen Entscheidung.

In dem entschiedenen Fall meldete im Auftrag der Fa. J die Klägerin, der der Status eines zugelassenen Versenders bewilligt ist, in das Zollgebiet verbrachte Waren (zwölf Fahrradträger), die sich nach summarischer Anmeldung in vorübergehender Verwahrung in einem Verwahrungslager der Fa. S befanden, am 17.01.2010 zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren an.

Die Waren wurden am selben Tag überlassen und sollten am Folgetag (zusammen mit weiteren Waren) durch die Fa. J vom Verwahrungslager abgeholt und zu ihrem Bestimmungsort transportiert werden. Dort wurde jedoch festgestellt, dass die Fahrradträger in der Warensendung fehlten. Sie waren im Verwahrungslager zurückgeblieben. Die hiervon unterrichtete Klägerin veranlasste daraufhin den erneuten Transport der Fahrradträger im Versandverfahren zu ihrem Empfänger, der sie unter Entrichtung der Einfuhrabgaben in den freien Verkehr überführte.

Mit einem an die Klägerin gerichteten Einfuhrabgabenbescheid setzte das beklagte Hauptzollamt die auf die Fahrradträger entfallenden Einfuhrabgaben mit der Begründung fest, die in das Versandverfahren übergeführten Waren seien der Bestimmungsstelle nicht gestellt und dadurch der zollamtlichen Überwachung entzogen worden. Die Klägerin focht diesen Bescheid nicht an, sondern beantragte die Erstattung der entrichteten Abgaben gemäß Art. 236 ZK (im weiteren Verlauf des Verfahrens auch gemäß Art. 239 Abs. 1 ZK). Das Hauptzollamt lehnte diesen Antrag ab.

Das Hessische Finanzgericht wies die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage ab . Anders als die Klägerin meine, seien die streitigen Waren nicht schon während der Zeit ihrer vorübergehenden Verwahrung der zollamtlichen Überwachung entzogen worden. Umlagerungen innerhalb des Verwahrungslagers, die hier angeblich dazu geführt hätten, dass die Waren nicht hätten gefunden werden können, als sie zum Weitertransport hätten verladen werden sollen, müssten nicht bedeuten, dass sie durch die Zollbehörde – wenn auch nur zeitweise – nicht mehr hätten geprüft werden können. Auch habe weder die Lagerbewilligung besondere Vorgaben für die Lagerhaltung enthalten, gegen die verstoßen worden sein könnte, noch habe es zur Zollschuldentstehung geführt, dass mit der Führung des Verwahrungslagers ein Subunternehmer beauftragt worden sei. Die Zollschuld sei entstanden, als die Waren entgegen der Versandmeldung im Verwahrungslager verblieben seien. Die Klägerin sei als Hauptverpflichtete des Versandverfahrens Zollschuldnerin. Dass auch der Fahrer der Fa. J als Zollschuldner in Betracht gekommen sei, begründe den Erstattungsanspruch nicht, weil die Klägerin die entstandenen Einfuhrabgaben – wenn auch als Gesamtschuldnerin – gesetzlich geschuldet habe.

Der Bundesfinanzhof hatte auf die Revision der Klägerin hin das Verfahren ausgesetzt und hat dem Gerichtshof der Europäischen Union die sich im Streitfall ergebenden Fragen zur Zollschuldentstehung wegen Entziehens aus zollamtlicher Überwachung sowie zum Zollschuldner zur Vorabentscheidung vorgelegt, die der Gerichtshof der Europäischen Union wie folgt beantwortet hat:

1. Die Art. 50 und 203 [ZK] (…) sind dahin auszulegen, dass eine in vorläufiger Verwahrung befindliche Ware als der zollamtlichen Überwachung entzogen anzusehen ist, wenn sie zwar zu einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet worden ist, jedoch nicht das Lager verlässt und nicht der Bestimmungszollstelle gestellt wird, obwohl dieser die Versandpapiere vorgelegt worden sind.
Art. 203 Abs. 3 vierter Gedankenstrich [ZK] (…) ist dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens im Fall der Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung die Person, die diese Ware als zugelassener Versender in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren übergeführt hat, Zollschuldner gemäß dieser Bestimmung ist.”.

Der Bundesfinanzhof hat daraufhin die Revision zurückgewiesen.

Die Erstattungsvoraussetzungen des Art. 236 Abs. 1 Unterabs. 1 ZK liegen nämlich nicht vor. Der Einfuhrabgabenbetrag war im Zeitpunkt der Zahlung gesetzlich geschuldet. Die Einfuhrabgaben waren gemäß Art. 203 Abs. 1 ZK durch Entziehen der Waren aus zollamtlicher Überwachung entstanden und die Klägerin war Schuldner des Abgabenbetrags.

Die Zollschuld ist nicht bereits während der Zeit der vorübergehenden Verwahrung der Fahrradträger im Verwahrungslager entstanden. In der Beauftragung eines Subunternehmers mit der Führung des Verwahrungslagers kann kein Entziehen aus zollamtlicher Überwachung gesehen werden. Auch für eine vorliegende Pflichtverletzung der Fa. S besteht kein Anhaltspunkt. Das Finanzgericht hat weder festgestellt, dass die Führung des Verwahrungslagers durch einen Subunternehmer den Bedingungen der für das Lager erteilten Bewilligung widersprach noch dass die Fa. S eine in Wahrheit nicht bestehende Sachherrschaft über die im Verwahrungslager befindlichen Waren nur vortäuschte.

Die Zollschuld ist am 18.01.2010 gemäß Art. 203 Abs. 1 und 2 ZK entstanden, weil die streitigen Waren an diesem Tag der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sind. Für die Einfuhrumsatzsteuerschuld gilt vorgenannte Vorschrift nach § 21 Abs. 2 UStG sinngemäß.

Die Waren sind am 17.01.2010 zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet und überlassen worden. Damit hatten sie eine zollrechtliche Bestimmung erhalten und nach Art. 50 Satz 1 ZK nicht mehr die Rechtsstellung von Waren in vorübergehender Verwahrung, sondern befanden sich (trotz ihres unveränderten Aufenthaltsorts im Verwahrungslager) im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren unter zollamtlicher Überwachung.

Die streitigen Waren sind während des Versandverfahrens, nämlich am 18.01.2010, der zollamtlichen Überwachung entzogen worden, indem der an diesem Tag für das Versandverfahren vorgesehene Transport ohne diese Waren stattfand, weil sie nicht auf das Transportfahrzeug verladen wurden, sondern im Verwahrungslager zurückblieben.

Der Begriff der Entziehung aus zollamtlicher Überwachung i.S. des Art. 203 Abs. 1 ZK ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union so zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde, sei es auch nur zeitweise, am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird. Dafür reicht es, wenn die Ware etwaigen zollamtlichen Überprüfungen objektiv entzogen wurde, unabhängig davon, ob diese von der zuständigen Behörde tatsächlich vorgenommen worden wären.

Hinsichtlich in das Versandverfahren übergeführter Waren ist eine Behinderung zollamtlicher Prüfungen im vorstehenden Sinne anzunehmen, wenn Waren und Versandpapiere voneinander getrennt werden, mithin für den Fall einer zollamtlichen Kontrolle der die transportierten Waren betreffende Versandschein nicht präsentiert werden kann oder – umgekehrt – die Waren sich nicht dort befinden, wo sie sich nach den Versandpapieren befinden solltenin Slg. 2004, I-4683, ZfZ 2004, 228). In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof der Europäischen Union auch im Streitfall mit seinem Urteil die Auffassung vertreten, von der Entziehung einer vormals in vorübergehender Verwahrung befindlichen Ware aus zollamtlicher Überwachung sei auszugehen, wenn diese zwar zu einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet und überlassen worden sei, jedoch nicht das Verwahrungslager verlassen habe und nicht der Bestimmungszollstelle gestellt worden sei, obwohl dieser die Versandpapiere vorgelegt worden seien.

Die Klägerin war (jedenfalls) gemäß Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK Schuldnerin der Einfuhrabgaben, da sie als Hauptverpflichtete des eröffneten externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens (Art. 96 Abs. 1 ZK) die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich aus der Inanspruchnahme dieses Zollverfahrens ergeben.

Die Einfuhrabgaben sind auch nicht nach Art. 239 Abs. 1 ZK zu erstatten.

Nach dieser Vorschrift i.V.m. Art. 899 Abs. 2 ZKDVO (Zollkodex-Durchführungsverordnung) können Einfuhrabgaben von der zuständigen Behörde in anderen als den in Art. 236 bis 238 ZK sowie in den Art. 900 bis 903 ZKDVO geregelten Fällen erstattet werden, wenn es sich um einen besonderen Fall handelt, der sich aus Umständen ergibt, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind (sog. Erstattung aus Billigkeitsgründen).

Auf einen besonderen Fall i.S. des Art. 899 Abs. 2 ZKDVO kann geschlossen werden, wenn im Licht des an der Billigkeit ausgerichteten Regelungszwecks dieser Vorschriften Umstände festgestellt werden, aufgrund deren sich der Antragsteller in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist.

Zum Vorliegen eines in diesem Sinne “besonderen Falls” oder zum Fehlen offensichtlicher Fahrlässigkeit hat die Klägerin weder im finanzgerichtlichen Verfahren noch im Revisionsverfahren Ausführungen gemacht, welche die Annahme vorgenannter Erstattungsvoraussetzungen nahelegen. Im Übrigen ist auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs hinzuweisen, der zufolge Einfuhrabgaben, die in Unkenntnis ihres vorangegangenen Entstehens wegen Entziehung aus zollamtlicher Überwachung erst anlässlich ihrer Überführung in den freien Verkehr erhoben und entrichtet worden sind, dem zu Unrecht gemäß Art. 201 Abs. 3 ZK in Anspruch genommenen Zollschuldner zu erstatten sind, nicht jedoch dem nach Art. 203 Abs. 3 ZK in Anspruch zu nehmenden Zollschuldner aus Billigkeitsgründen erlassen bzw. erstattet werden können.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 26.11.2014 – VII R 3/12